Ökonom Raffelhüschen: "Die Schuldenbremse ist ein Segen" (original) (raw)
Bernd Raffelhüschen polarisiert mit seinen Aussagen. Im Capital-Interview holt er zum Rundumschlag aus: gegen Sozialausgaben, Energiewende und Kritiker der Schuldenbremse.
Capital: Herr Raffelhüschen, Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Dienstag im Bundestag sein Versprechen erneuert, dass die Bundesregierung niemanden allein lassen werde. You’ll never walk alone – trotz Haushaltskrise. Ist das angesichts des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und massiven Einsparungen ein seriöses Versprechen?
Bernd Raffelhüschen: Das ist natürlich ein netter Spruch. Er hat aber nichts mit der Realität zu tun. Scholz lenkt von der Verfassungsmäßigkeit seiner Haushalte ab. Der jetzt eingebrachte Nachtragshaushalt für 2023 ist im Prinzip ein Bruch der Schuldenbremse und damit nicht verfassungskonform – jedenfalls dann, wenn es 2023 keine Notlage gegeben hätte. Und die sehe ich nicht.
Der Ukrainekrieg und die Energiekrise haben doch Auswirkungen bis ins aktuelle Jahr. Rechtfertigt das keine Notlage?
Eine Notlage muss laut Verfassungsgericht außergewöhnlich und situativ sein. Wir können ein Thema aus 2022 nicht einfach beliebig strecken. Es bleibt der Regierung aber nichts anderes übrig, weil der Haushalt für 2023 ja nur noch vier Wochen läuft.
28. November 2023,19:56
Ökonomen wie Rüdiger Bachmann verweisen darauf, dass Krisen meistens länger wirken als ein Haushaltsjahr – weswegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts "makroökonomischer Analphabetismus" sei. Hat er recht?
Nein, das sehe ich im aktuellen Fall anders. Wir hatten in der Vergangenheit Notlagen – ganz sicher! Die Coronakrise zum Beispiel hat ein Aussetzen der Schuldenbremse notwendig gemacht. Aber die Notlagen sind vorbei, die Wirtschaft hatte genügend Zeit zur Anpassung. Über die strikte Trennung nach Haushaltsjahren ließe sich diskutieren, aber es macht schon Sinn den Bedarf für jedes Jahr neu zu ermitteln. Das Problem ist ein anderes.
Und zwar?
Wir haben während Corona unseren Haushalt massiv aufgebläht und uns daran gewöhnt. 2019 hatten wir einen Haushalt von 350 Mrd. Euro, 2022 dann von 550 Mrd. Euro und 2023 von 480 Mrd. Euro. Das heißt, wir haben die Corona-induzierten Mehrausgaben noch nicht wieder heruntergefahren, obwohl es die Krise gar nicht mehr gibt. Und für 2024 diskutieren wir jetzt wieder über einen Haushalt von 480 Mrd. Euro. Das kann keine vernünftige, rationale Haushaltsführung sein.
Sie sprechen sich also für Einsparungen am neuen Haushalt aus, um die entstandenen Löcher zu stopfen?
Ja, anders geht es nicht. Ich sehe allerdings keine politische Lösung: Die SPD will nicht an die Sozialausgaben ran, die Grünen nicht an die Energiewende und die FDP will die Schuldenbremse einhalten. Es ist die Quadratur des Kreises.
30. November 2023,13:59
Welche Seite müsste aus Ihrer Sicht zuerst Einschnitte hinnehmen?
Die Schuldenbremse hat Verfassungsrang. Darüber können wir uns nicht länger hinwegsetzen – auch nicht mit Notprogrammen oder Notlügen. Nein, wir müssen an die Sozialausgaben ran, schon allein demografisch. Wir müssen aber auch an die Subventionen ran. Es kann nicht sein, dass uns die überhastete Energiewende in die De-Industrialisierung führt.
Überhastet?
Ja, überzogen und überhastet. Deutschland kann die Klimaerwärmung nicht allein stoppen. Und wenn sich andere Länder zehn Jahre mehr für die Energiewende gönnen, sollten wir das vielleicht auch tun.
Sie nannten aber auch die Sozialausgaben. Woran denken Sie da?
Wir müssen an jeder Ecke ansetzen. Und zwar nicht mit der Nagelschere, sondern mit dem Rasenmäher. Wir müssen ausnahmslos jedem abverlangen, dass er ein Opfer bringt. Angefangen beim Bürgergeld, das stärker an die Leistungsbereitschaft des Einzelnen geknüpft werden sollte, bis hin zu Rentnern, deren Rentenerhöhung unter der allgemeinen Lohnentwicklung der arbeitenden Bevölkerung liegen sollte. Das gleiche gilt für Pensionäre und aktive Beamte. Wohlwissend, dass ich mir damit sehr bald ins eigene Fleisch schneide. Dazu müssen wir die Gesundheitsausgaben deutlich effizienter einsetzen. Wir haben zu viele unspezialisierte Krankenhäuser, die viel zu hohe Subventionen beziehen. Und bei der Pflege brauchen wir mehr Eigenbeteiligung. Wir müssen davon wegkommen, dass immer alles von der Gemeinschaftskasse finanziert wird. Denn die Kasse füllt die arbeitende Bevölkerung – und hiervon gibt es immer weniger.
30. November 2023,15:07
Das wären aber extrem unpopuläre Maßnahmen…
Es sind Maßnahmen, die ich als Politiker nicht sagen und nicht betreiben würde, denn dann würde ich meinen Job verlieren.
Gerade untere Einkommensschichten würden massiv darunter leiden.
Deutschland hat nicht nur die reichsten Reichen in seiner Geschichte, sondern auch die reichsten Armen. Wir können allen ohne weiteres zumuten, dass sie sich ein Stück weit selbst helfen. Es geht nicht darum, die Grundsicherung abzuschaffen. Es geht darum, vom leistungslosen Grundsicherungsgedanken wegzukommen. Fast jeder Mensch kann und soll etwas tun. Und wenn das nicht reicht, dann geben wir ihm den Rest. Das war schon immer der Gedanke unseres Sozialstaats. Was ich meine: Es kann zum Beispiel nicht sein, dass in Berlin in manchen Stadtteilen 40 Prozent Grundsicherungsquote herrscht – aber am Flughafen BER keine Koffer eingeladen werden können, nur weil Menschen fehlen.
Die Linke probiert es von der anderen Seite und schlägt eine Vermögenssteuer von zwei Prozent vor. Wäre das kein Ausweg für diese spezielle Situation?
Nein, auf keinen Fall. Zum einen tragen die Reichen schon unglaublich viel bei. Die obersten zehn Prozent zahlen fast 50 Prozent der gesamten Einkommenssteuer. Zum anderen gibt es ganz praktische Hürden. Eine Vermögenssteuer muss nach Marktwerten angesetzt werden. Das bedeutet einen unglaublichen administrativen Aufwand für die Ämter, denn irgendjemand muss diese Marktwerte schätzen. Das ließe sich kaum bewerkstelligen beziehungsweise nur mit erheblich mehr Personal – was wiederum zu höheren Kosten führt. Die Hälfte der potenziellen Einnahmen wären so schon wieder weg. Also keine gute Idee der Linken, wie so häufig.
Neben Sozialleistungen würden Sie auch bei Subventionen kürzen. Wo würden Sie hier ansetzen?
Ich würde die Diskussion über Industriestrompreise sofort beenden. Stattdessen würde ich der Industrie mehr Zeit für die Energiewende einräumen – fünf bis zehn Jahre.
Aber die Unternehmen betonen doch immer wieder, wie wichtig die aktuellen Strompreise für sie sind.
Ja, und das stimmt natürlich. Nur ist es ja so, dass der Strompreis zu mehr als 50 Prozent aus Steuern und Abgaben besteht. Wenn wir jetzt auch noch die geplante CO2-Abgabe in vollem Umfang einführen, dann kommen weitere 5 bis 10 Cent dazu. Der Staat fängt also an, das zu subventionieren, was er selbst verteuert. Absurd.
Kurz gesagt: Wir haben in Deutschland also kein Einnahme-, sondern ein Ausgabeproblem?
Ja, definitiv. Die Einnahmen sind gemessen am BIP so hoch wie noch nie. Und dann sollen wir es nicht hinkriegen, einen verfassungskonformen Haushalt aufzustellen? Das kann ich mir nicht vorstellen.
Andere Ökonomen wie Monika Schnitzer würden trotzdem lieber die Schuldenbremse aus dem Grundgesetz streichen. Warum wehren Sie sich so dagegen?
Formaljuristisch hat die Schuldenbremse Verfassungsrang. Wer sie abschaffen will, braucht eine Zweidrittelmehrheit – und die sehe ich nicht. Persönlich betrachte ich die Schuldenbremse als Segen. Hätten wir sie nicht, brächen die Dämme. Sie verhindert Geschenke zulasten künftiger Generationen, denn Schulden von heute sind Steuern von morgen. Die Schuldenbremse ist das, was die intergenerative Gerechtigkeit in unserer Verfassung in sich trägt.
Was wäre mit einer Reform der Schuldenbremse? Die Grenze von ausgerechnet 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die jährlich an neuen Schulden aufgenommen werden dürfen, scheint reichlich willkürlich. Sehen Sie das auch so?
Ja, das ist tatsächlich willkürlich und hier könnte man ansetzen. Ich würde mich aber eher für 0,3 als 0,4 Prozent aussprechen.
Und wenn wir Investitionen stärker von der Schuldenbremse ausnähmen, also Investitionen vor Staatskonsum? Letztlich waren Sondervermögen ja ein ähnliches Instrument – nur eben verfassungswidrig aufgesetzt.
Es ist eine Mär, dass die Schuldenbremse die notwendigen Investitionen verhindert. Sie verhindert im Gegenteil noch weitere Ausgaben für den Sozialstaat. Denken Sie an die sogenannte Friedensdividende. Wir hätten über viele Jahre unser Geld ins Militär stecken können. Stattdessen ist es im Sozialstaat gelandet. Das ist nur eines von vielen Problem, wenn man an Autobahnen, Schienen oder die weitere öffentliche Infrastruktur denkt.
Genau deshalb wäre es doch sinnvoll, Schulden – etwa für die öffentliche Infrastruktur – aufzunehmen. Da würden wir uns noch in etlichen Jahren drüber freuen.
Ich bin da wenig optimistisch. Schaut man in den KTF, sind solche Töpfe voller Subventionen und nicht voll von investiven Ausgaben. Das ist dann nicht wirklich zielführend für unsere Industrie.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst bei Capital.de.
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