Das ungesühnte Verbrechen (original) (raw)

Zum 70. Mal jähren sich in diesen Tagen die Massenmorde von Katyn: Damals erschoss der sowjetische Geheimdienst fast 15.000 kriegsgefangene polnische Offiziere. Als die Deutschen später einen der Tatorte entdeckten, entfachte Joseph Goebbels eine europaweite Propaganda. Jahrzehntelang bestritten die Sowjets ihre Verantwortung für das Verbrechen.

Von Andreas Mix

"In der Nähe von Smolensk sind polnische Massengräber gefunden worden. Die Bolschewisten haben hier etwa 10.000 polnische Gefangene, unter ihnen auch Zivilgefangene, Bischöfe, Intellektuelle, Künstler usw., einfach niedergeknallt und in Massengräbern verscharrt", notierte Joseph Goebbels am 9. April 1943 in seinem Tagebuch. Der Fund bot dem NS-Regime die unverhoffte Chance, drei Monate nach der Niederlage von Stalingrad propagandistisch in die Offensive zu gehen. Auf Goebbels Geheiß begann eine beispiellose Kampagne. Presse, Rundfunk und Wochenschauen berichteten über den "Massenmord von Katyn". Damit sollten nach Goebbels Willen "die Völker Europas gegen die Unkultur des Ostens" mobilisiert werden.

Die sowjetische Seite reagierte umgehend mit einer Gegenverlautbarung: Radio Moskau erklärte bereits am 15.April, die Deutschen trügen die Schuld für den Mord an den kriegsgefangenen polnischen Offizieren. Die Deutschen wiederum luden ausländische Ärzteteams und Journalisten zu den Gräbern ein, um die Staatengemeinschaft von ihrer vermeintlichen Unschuld zu überzeugen.

Die polnische Exilregierung in London durchschaute das zynische Spiel: Während Goebbels die "Blutschuld der Bolschewisten" anklagte, verübten SS- und Polizeieinheiten im deutsch besetzten Polen fortgesetzt Massaker an der Zivilbevölkerung. Dennoch konnten die politischen Vertreter Polens angesichts der sowjetischen Verbrechen nicht schweigen. Ihre hartnäckigen Fragen nach dem Schicksal der verschwundenen Offiziere nahm Stalin Ende April 1943 zum Anlass, um die Beziehungen zur Exilregierung in London abzubrechen und sie als Hitlers Helfer zu diffamieren. Goebbels jubelte über seinen Coup. Der Bruch im alliierten Bündnis galt ihm "als ein totaler Erfolg der deutschen Propaganda".

Die Archive sind inzwischen wieder geschlossen

Nach der Rückeroberung von Smolensk im Herbst 1943 setzte die sowjetische Führung umgehend eine Sonderkommission ein. Ihre "Feststellung und Untersuchung des Tatbestandes der Erschießung kriegsgefangener polnischer Offiziere durch die faschistischen deutschen Okkupanten im Wald von Katyn" war für die Sowjetunion und ihre Satelliten - zu denen nun auch Polen gehörte - fortan verbindlich. Den staatlichen Repressionen zum Trotz pflegte die polnische Gesellschaft die Erinnerung an die Opfer und die wahren Täter: In der Literatur, mit provisorischen Denkmälern und in Messen wurde immer wieder an den Massenmord erinnert.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Untergang des alten System stürzten schließlich auch dessen Lügengebäude ein. In den russischen Archiven tauchten die Mordbefehle des sowjetischen Geheimdienstes auf. In Polen erschienen Aufzeichnungen der Opfer und wissenschaftliche Dokumentationen; in zahlreichen Städten wurden Denkmäler errichtet. Inzwischen ist Katyn zum Symbol der sowjetischen Verbrechen in Polen geworden, doch dem wieder erstarkten Russland fällt die Erinnerung daran schwer. Die Archive sind längst wieder geschlossen; Historiker schweigen oder schreiben die sowjetischen Lügen willfährig fort.

Dass erst jetzt, 70 Jahre nach der Tat, polnische und russische Politiker zum ersten Mal gemeinsam der Opfer gedachten, zeigt, wie langsam die Aussöhnung voranschreitet. Dass der russische Premierminister Wladimir Putin in Anwesenheit seines polnischen Amtskollegen Donald Tusk beim Besuch der Gedenkstätte von Katyn am Mittwoch das Wort "Entschuldigung" kein Mal verwendete, beweist, wie schwierig dieser Annäherungsprozess noch ist.

Tod für "eingefleischte Feinde der Sowjetmacht"

Das Verbrechen von Katyn begann mit dem Bündnis der Diktatoren: Am 23. August 1939 schlossen das "Dritte Reich" und die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt. In einem geheimen Zusatzprotokoll teilten die ideologischen Todfeinde Ostmitteleuropa untereinander auf. Drei Wochen später, als die Wehrmacht bereits Warschau eingeschlossen hatte, marschierte die Rote Armee ohne Kriegserklärung in Ostpolen ein, um sich ihren Teil der Beute aus dem Hitler-Stalin-Pakt zu sichern. Die polnischen Streitkräfte waren von dem Überfall vollkommen überrascht. Fast 250.000 Soldaten fielen der Roten Armee in die Hände. Einer von ihnen war der Lehrer und Hauptmann der Reserve Boleslaw Jakubowicz aus dem oberschlesischen Tarnowitz.

Am 23. September 1939 ergab er sich der Roten Armee. Der sowjetische Geheimdienst NKWD sonderte Jakubowicz wie alle anderen Offiziere, Unteroffiziere, Polizisten und Grenzschützer aus. Sie wurden auf Befehl von NKWD-Chef Lawrenti Berija auf die Lager Kosjelsk, Starobjelsk und Ostaschkow verteilt. Fast acht Monate lang blieb Jakubowicz im ehemaligen Kloster von Kosjelsk interniert, 250 Kilometer südwestlich von Moskau. Über sein Schicksal entschied die oberste Sowjetführung. Am 5. März 1940 legte Berija einen vierseitigen Beschluss vor. Die knapp 14.700 internierten polnischen Offiziere galten als "eingefleischte, unverbesserliche Feinde der Sowjetmacht". Für sie sah der NKWD-Chef die Höchststrafe vor: "Tod durch Erschießen". Stalin und seine engsten Getreuen zeichneten Berijas Vorlage handschriftlich ab.

"Keiner weiß, wohin sie uns diesmal bringen"

Einen Monat später begann die Auflösung der Lager. Die Insassen aus Ostaschkow wurden nach Kalinin, dem heutigen Twer, deportiert; die Häftlinge aus Starobjelsk nach Charkow. Der NKWD erschoss dort mehr als 10.000 Gefangene. Die Auflösung des Lagers Kosjelsk beschrieb Boleslaw Jakubowicz in seinem Tagebuch am 5. April: "Die Transporte dauern an... Keiner weiß, wohin sie uns diesmal bringen." Am 21. April wurde auch Jakubowicz deportiert: "Heute nach der Mittagsstunde wurde ich abgeholt - Nach der Durchsuchung - im Auto zum Anschlussgleis in Gefangenenwaggons - 15 Mann in einem Abteil hinter Gittern." Einen Tag später brechen die Aufzeichnungen ab. In einem Wäldchen bei Katyn, 20 Kilometer westlich von Smolensk, wurde Jakubowicz durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet und verscharrt. Er war einer von fast 4200 Opfern. Auf ihren Gräbern pflanzten die Mörder ein Birkenwäldchen an.

Als die Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, forderten die inzwischen zu Verbündeten der Sowjetunion gewordenen Polen von Moskau Auskunft über den Verbleib ihrer Offiziere. Auf die drängenden Fragen der polnischen Exilregierung reagierte Stalin mit Schweigen oder Lügen. Gegenüber Premierminister Wladyslaw Sikorski behaupte er, die polnischen Offiziere seien in die Mandschurei geflohen. Die Suche nach den Vermissten blieb erfolglos - bis zum Frühjahr 1943.

Eine internationale Ärztekommission exhumierte die Leichen

Im Februar 1943 entdeckten Angehörige des Nachrichtenregiments 537 der Wehrmacht die Gräber von Katyn. Anfang April, als der Boden getaut war, begannen die Ausgrabungen. Unter Aufsicht einer internationalen Ärztekommission wurden 4143 Leichen identifiziert. In den Uniformen der Toten fand man Erkennungsmarken, Fotos, Zeitungsausschnitte. Boleslaw Jakubowicz, Nummer 2904 auf der Liste der Exhumierten, trug ein ärztliches Attest, ein Regimentsabzeichen, eine Kette und ein Gebetbuch bei sich.

Die Massengräber, in denen der NKWD im Frühjahr 1940 die in Twer und Charkow Erschossenen verscharrt hatte, entdeckten die Deutschen nicht mehr. Die Gräber wurden nach mehr als fünfzig Jahren im Sommer 1991 geöffnet. Eines der Opfer von Charkow war der Hauptmann Jakub Wajda. Sein Sohn, der weltberühmte Regisseur Andrzej Wajda, erinnerte 2007 mit dem Film "Das Massaker von Katyn" an die sowjetischen Verbrechen. Das russische Staatsfernsehen strahlte in der vergangenen Woche Wajdas bewegenden Spielfilm aus - ein ebenso starkes Signal für die russisch-polnische Aussöhnung wie das Treffen der Premierminister Wladimir Putin und Donald Tusk am Mittwoch an den Gräbern von Katyn.

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