Macht der VAR das Spiel kaputt? Der Mensch ist das Problem, nicht die Maschine (original) (raw)

VAR-Entscheidung Handspiel Deutschland Dänemark

EM-Achtelfinale Deutschland vs. Dänemark: Schiedsrichter Oliver Michael schaut sich die Szene zum möglichen Handelfmeter an

© Markus Ulmer / Picture Alliance

Nach strittigen VAR-Entscheidungen im Dänemark-Spiel ist eine absurde Debatte entbrannt: Der Fußball sieht sich von Computern gekapert. Dabei machen die das Spiel nur transparenter – wenn die Technologie richtig eingesetzt wird.

Sportereignisse schrumpfen in ihrer Bedeutung je länger sie zurückliegen, denn nichts besitzt eine solche Wucht wie der Live-Moment. Für das Achtelfinalspiel Deutschland gegen Dänemark, ausgetragen am Samstagabend, scheint dieses Gesetz seltsamerweise nicht zu gelten. Je weiter die Partie in die Ferne rückt, desto größer wird sie.

Die Diskussionen, die um dieses Spiel kreisen, haben sich bereits meilenweit von der Grasnarbe des Dortmunder Stadions entfernt. Verhandelt wird nun Grundsätzliches, es geht gar um die Macht von Maschinen, die dem Fußball angeblich die Seele rausgerissen haben in jenem EM-Spiel.

Die Vermessung des Fußballs

An zwei Schiedsrichterentscheidungen haben sich diese Debatten entzündet. Beiden Entscheidungen ging eine Intervention des VAR voraus, des Video Assistant Referees. Der lieferte Daten- und Bildmaterial, das in einem Fall zur Aberkennung eines Tores vom Dänen Joachim Andersen führte, und das in einem zweiten Andersen ein Handspiel nachwies, welches mit einem Elfmeter für Deutschland sanktioniert wurde.

30. Juni 2024,08:40

Jubelnde Schlandfans

Statt 1:0 zu führen, lagen die Dänen plötzlich 0:1 zurück. Binnen nur fünf Minuten in der zweiten Halbzeit war die Partie gekippt. Deutschland siegte 2:0.

In beiden strittigen Fällen hatten computergestützte Programme das Spiel mit dem Millimeterlineal vermessen: In der ersten Szene ragte Thomas Delaneys Fußspitze nur wenige Zentimeter in die verbotene Abseitszone. In der zweiten berührte Andersens Hand den Ball minimal, wie in der Kugel verbaute Sensoren meldeten.

Kein Anlass zu Kulturpessimismus

Das rief jede Menge Kritiker auf den Plan: Konnte es wirklich sein, dass der Fußball, dieses ungestüme und wilde Spiel, so kaltherzig Maß genommen wird? Was hat diese Nanotechnologie auf dem Platz zu suchen? Ist das nicht wider die Natur des Spiels? Hat jetzt sich die Künstliche Intelligenz den Fußball endgültig zur Beute gemacht?

Diese Fragen haben ihre Berechtigung, aber sie kulturpessimistisch zu beantworten, wie vielfach geschehen, würde den Kern des Problems verkennen. Denn nicht das vermeintliche Eigenleben der VAR-Technologie trägt Schuld an den Fehlentscheidungen im Fußball – es ist der Mensch.

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Manuel Neuer

Manuel Neuer

In einem teilweise zerfahrenen Spiel war Manuel Neuer der gewohnt starke Rückhalt der DFB-Elf. Der 38-Jährige entschärfte brenzliche Situationen und behielt mit VAR-Hilfe eine weiße Weste.

© Revierfoto / Imago Images

Wohl niemand käme auf die Idee, die Abschaffung von Röntgengeräten zu fordern, bloß weil ein einzelner Knochenbruch schlecht verheilt ist. Nicht das Röntgenbild ist die Schwachstelle, sondern der Arzt, der nach Ansicht desselben die falsche Diagnose stellt. Ein Röntgenbild liefert keine Handlungsempfehlung, wie mit einem Bruch zu verfahren ist. Ob er mit einer Stahlplatte geschient werden muss, ob ein minimalinvasiver Eingriff ratsam wäre oder ob eine stützende Manschette genügt, diese Entscheidung muss allein der Arzt fällen.

Die Gesamtumstände müssen gewürdigt werden

Nicht anders ergeht es einem Schiedsrichter: Er bekommt eine Grafik auf den Kontrollmonitor gespielt, die zeigt, ob die Hand am Ball war oder nicht. Ein Positivbefund muss jedoch nicht zwangsläufig zu einem Elfmeterpfiff führen, wie fatalerweise gegen Dänemark geschehen. Es ist die Aufgabe des Schiedsrichters, die Gesamtumstände der Tat in den Blick zu nehmen: Streckte der Spieler die Hand absichtlich in Richtung Ball? Wurde der Spieler etwa nur angeschossen? Und wenn ja: Hatte er eine Chance, die Hand zurückzuziehen?

All dies gilt es unter Einbeziehung des computergenerierten Bildes abzuwägen. Und all dies tat Schiedsrichter Michael Oliver nicht. Er vertraute allein dem Bild. Die Enttäuschung der Dänen, ihre Wut über den Elfmeterpfiff für Deutschland, sie war verständlich.

Auch der große Zeh hat im Abseits nichts zu suchen

Anders verhielt es sich mit der Abseits-Entscheidung. Thomas Delaneys großer Zeh war in der verbotenen Zone, aber auch ein Zeh gehört zum Körper, also ging die Entscheidung in Ordnung.

Die im Fußball lautstarke Fraktion der Traditionalisten fordert nun, man müsse sich in solchen Fällen einen Ermessensspielraum vorbehalten und tolerant verfahren. Aber wo endet der Toleranzbereich bei Abseitsentscheidungen? Bei drei Zentimetern? Bei vier? Und bei fünf soll plötzlich Schluss sein? Fünf Zentimeter, das ist doch bloß ein Zentimeter mehr als vier – wie brutal, wie scharfrichterlich wäre es, jetzt alles von nur einem einzigen Zentimeter abhängig machen zu wollen! Sagen wir: sechs Zentimeter. Oder gleich sieben?

Diese Argumentationskette ließe sich endlos fortschreiben, und die Folgerung aus diesem Gedankenexperiment kann nur sein, dass der Fußball sich nicht naiver machen sollte, als er ist. Er muss aufgeschlossen bleiben für neue Technologien. Er muss alle Hilfsmittel nutzen, die das Spiel transparenter und fairer machen können. Aber die Menschen, die sich dieser Instrumente bedienen, müssen besser geschult werden.

Ein Foto von einem Handspiel bietet lediglich eine zweidimensionale Wahrheit. Es ist ein eingefrorener Moment. Fußball aber ist komplex und dynamisch. Entscheidungsgrundlage für einen Pfiff muss das große, bewegte Bild sein, die Würdigung aller relevanten Umstände.

Ein EM-Schiedsrichter sollte dies wissen. Michael Oliver wusste es zum Leidwesen der Dänen nicht. Aber das ist nicht die Schuld der Apparate, die Oliver zu Rate zog.