Aufarbeitung, nächstes Kapitel: Alte Vorbilder, neue Perspektiven(stern+) (original) (raw)

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte darf kein Schlussstrich beenden. Nun geht es um die Neubewertung historischer Figuren, die wir lange als Vorbilder ehrten.

Vor allem ihre deutschen Freunde haben laut gelacht, als sie von dem Plan erfuhren. Ein ehemaliger deutscher Kulturminister unternahm gar den Versuch, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Niemand konnte sich vorstellen, dass sie ein solches Buch schreiben könnte. Nicht mit diesem Titel: "Von den Deutschen lernen".

Susan Neiman ist eine amerikanische Jüdin, eine weltbekannte Philosophin und seit dem Jahr 2000 Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam. Ihr Interesse gilt der Frage: "Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können". So lautet der Untertitel ihres Buches, das schließlich 2019 erschien.

Porträt König Leopold II.

Über diese historischen Persönlichkeiten wird gestritten, weil ihre Ansichten und ihr Verhalten heutigen Werten widersprechen: Der belgische König Leopold II.

© www.bridgemanart.com

Nirgendwo ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit so notwendig wie in dem Land, das verantwortlich ist für das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Von den Erfahrungen mit der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, davon ist Susan Neiman überzeugt, können auch andere Nationen etwas lernen. Wie man es macht. Und auch, wie man es nicht macht.

Die kritische Diskussion über historische Ereignisse oder Persönlichkeiten ist keine rein deutsche Angelegenheit. Sie ist eine Verpflichtung aller freien Gesellschaften, und kein Schlussstrich kann sie beenden. In den USA tobt eine erbitterte Auseinandersetzung um die nicht stattgefundene Aufarbeitung der Sklaverei. In Großbritannien wurden allein im Jahr 2020 fast 70 Denkmäler gestürzt oder umbenannt, weil sich die geehrten Personen zwischenzeitlich als Rassisten oder Kolonialisten entpuppten. Und Belgien streitet über das Erbe von König Leopold II. (1835–1909), der im heutigen Kongo unvorstellbare Gräueltaten verüben ließ.

Die Taten lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen. Der Holocaust ist unvergleichlich. Aber den Umgang mit problematischer Geschichte miteinander zu vergleichen ergibt dennoch Sinn. Was das Eingeständnis der Schuld angeht, scheint Deutschland weiter zu sein als andere Nationen.

Von Verdrängung hin zu Vergangenheitsbewältigung

Die Geschichte der Bundesrepublik ist ein jahrzehntelanger Prozess der Aufarbeitung. Jeder Schritt muss in kontroversen Debatten erstritten werden. Quälend lange haben die Deutschen gebraucht, bis sie sich überhaupt auf den Weg machen wollten. Auch Henri Nannensstern zeigte in den Anfangsjahren wenig Interesse, seine Leser mit der Schuld zu konfrontieren. Der Protest der 68er-Generation war ein erster Schritt. 1979 führte die TV-Serie "Holocaust" der deutschen Gesellschaft die eigentlich bekannte Realität des industriellen Massenmordes auf eine Art vor Augen, die ein Verleugnen fortan unmöglich machte.

Porträt Richard von Weizsäcker

Ehemaliger Bundespräsident der Bundesrepublik: Richard von Weizsäcker (CDU)

© ddp

Doch es dauerte bis zum 8. Mai 1985, als Richard von Weizsäcker seine epochale Rede vor dem deutschen Bundestag hielt, bis weite Teile der Nation schließlich begriffen, dass die Kapitulation des Nazi-Regimes eine Befreiung war.

Das war ein wichtiges Etappenziel. Doch noch immer wollten viele in Deutschland die systematischen Kriegsverbrechen der Wehrmacht nicht wahrhaben. "Die Kluft zwischen historischer Forschung und öffentlicher Erinnerung stellte sich als riesig heraus", schreibt Neiman. Das änderte sich durch die Wehrmachtsausstellung. Mit ihr begann eine neue Phase der Aufarbeitung, in der den Deutschen die Verstrickung von Millionen einfachen Soldaten in eine verbrecherische Organisation bewusst wurde. Die Wehrmachtsausstellung wurde schließlich selbst zu einem Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins sowie inzwischen über 75.000 Stolpersteine in Deutschland stellten schließlich die Opfer der NS-Diktatur ins Zentrum der Erinnerung. An diesem Punkt beginnt die deutsche Vergangenheitsbewältigung für Susan Neiman vorbildlich zu werden. Sie wünscht sich ein solches Mahnmal auch für die amerikanischen Sklaven mitten auf der National Mall in Washington. Das jedoch sei in den USA "kaum denkbar".

Keine roten Linien, die über Schuld und Unschuld entscheiden

Die Aufarbeitung dringt in immer tiefere Schichten vor. Inzwischen haben zahlreiche Ministerien, Verbände, Vereine und Unternehmen ihre Rolle im Nationalsozialismus erforscht. Dabei geht es um Organisationen, weniger um Personen. Bei der Schuldfrage ist es umgekehrt. Die öffentlichen Diskussionen über moralische Schuld fokussierten sich über Jahrzehnte auf die prominenten Haupttäter aus der ersten Reihe. Auf die Jagd nach Adolf Eichmann. Auf Hans Filbinger, der als Richter der Nazis Todesurteile gefällt hatte und dennoch Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden konnte.

Auf den KZ-Kommandanten Amon Göth, dessen Verbrechen im Film "Schindlers Liste" dargestellt wurden. Auf Hans Frank, Hitlers Generalgouverneur in Polen, über dessen Grausamkeiten sein Sohn, der ehemalige _stern_-Reporter Niklas Frank, schonungslos aufklärte.

22. November 2020,13:25

Hans Frank mit Frau Brigitte und Sohn 
Niklas

Die Täterinnen und Täter sind inzwischen tot, doch damit endet die Aufklärungsarbeit nicht. Sie konzentriert sich nun auf historische Figuren, die wir als Vorbilder ehren, deren Verstrickung in die Nazi-Herrschaft aber erst jetzt bekannt oder neu bewertet wird. Ambivalente Figuren wie Henri Nannen. Er ist das Paradebeispiel für einen Täter aus der zweiten oder dritten Reihe, der den Krieg der Nazis mit abscheulicher Propaganda befeuerte. Und der später die Entwicklung der Bundesrepublik zu einer freien, demokratischen Gesellschaft maßgeblich unterstützte. In beiden Waagschalen liegen schwere Gewichte. Das macht eine faire Bewertung kompliziert. Mit dem Hinterfragen der Vorbilder beginnt eine neue Phase der Vergangenheitsbewältigung – mit neuen Herausforderungen.

21. Juni 2022,20:00

Henri Nannen hält das stern-Logo mit seiner Unterschrift in den Händen

Bei der Auseinandersetzung mit ehemaligen Stasi-Spitzeln war die entscheidende Frage, ob ein Stasi-IM seinem ausspionierten Opfer geschadet habe. Gibt es auch für die Nazi-Täter der zweiten und dritten Reihe solche Schuldkriterien? "Leider nein", sagt Charles S. Maier. "Es existieren keine eindeutigen Kriterien, die immer gelten, keine roten Linien, die über Schuld und Unschuld entscheiden. Jeder Fall muss einzeln bewertet werden." Maier ist ein emeritierter Geschichtsprofessor aus Harvard, der für seine Forschung zur deutschen Geschichte mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. 1988 veröffentlichte er das Buch "The Unmasterable Past" (deutscher Titel: "Die Gegenwart der Vergangenheit"), in dem er den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit analysierte.

Die Würdigung ist immer Ausdruck ihrer Zeit

Problematisch wird es regelmäßig dann, wenn etwas nach einer belasteten Person benannt wird: Straßen, Plätze, Schulen oder Preise. Die Würdigung ist Ausdruck des Wertesystems zum Zeitpunkt der Namensgebung. Doch Werte verändern sich. "Oft ist das, was in der Vergangenheit als unproblematisch galt, heute unakzeptabel", sagt Maier.

Porträt George Washington

Der erste Präsident der Vereinigten Staaten: George Washington

© Bridgemanimages.com

Das betrifft nicht nur Deutschland. So ehrten die Bürger der englischen Hafenstadt Bristol den Unternehmer Edward Colston (1636–1721) mit einem Denkmal, weil er der Stadt Schulen, Kranken- und Armenhäuser stiftete. Das Geld dafür hatte er jedoch mit dem Handel von über 80.000 Sklaven verdient. Nach jahrelangen Protesten gegen das Denkmal rissen Demonstranten 2020 die Bronzestatue vom Sockel und versenkten sie im Hafenbecken. Sie hielten die Ehrung eines großzügigen Philanthropen einerseits und gewissenlosen Sklavenhändlers andererseits für unerträglich.

"Der gesellschaftliche Aushandlungsprozess ist niemals abgeschlossen. Die Bewertungen müssen fortlaufend überprüft werden", sagt Samuel Salzborn, Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin. 2021 hat er eine Studie zu sämtlichen 10.000 Namen von Berliner Straßen und Plätzen in Auftrag gegeben. Gesucht wurde nach antisemitischen Bezügen nicht nur während des Nationalsozialismus, sondern auch viele Jahrhunderte davor. Ergebnis: 290 Treffer. Darunter Kaiser Wilhelm II., Bismarck, Wagner, Fontane, Goethe, Kant sowie diverse katholische und evangelische Würdenträger. Manche setzten sich aktiv gegen Juden ein, andere äußerten sich öffentlich antisemitisch. In einigen Fällen reichte es aber auch schon, wenn jemand "antijüdische Ressentiments teilte" oder sich in Briefen "antisemitisch artikulierte", um von den Forschern als Problemfall eingestuft zu werden.

Geehrte Persönlichkeiten mit Schattenseiten

Rassismus, Sklaverei oder Antisemitismus war zu allen Zeiten ein Verbrechen. Doch welche Maßstäbe gelten für Menschen, die von einem vollkommen anderen Wertesystem geprägt wurden? Wie weit soll der Fahndungsdruck gehen? Wie kompromisslos sollen wir heute mit unseren historischen Vorbildern umgehen?

Porträt  Thomas Jefferson

Über diese historischen Persönlichkeiten wird gestritten, weil ihre Ansichten und ihr Verhalten heutigen Werten widersprechen: Der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten Thomas Jefferson

© Ullstein/Ullstein

"Jeder hat Leichen im Keller, auch die größten Vorbilder", sagt Professor Maier. George Washington, der erste Präsident der Vereinigten Staaten, besaß Sklaven. Auch Thomas Jefferson, der dritte US-Präsident und Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, besaß Sklaven. Mutter Teresa war eine enge Freundin der grausamsten Diktatoren ihrer Zeit und – das hat der stern enthüllt –überwies einen Großteil der Spendengelder ungenutzt an die Vatikanbank. Joschka Fischer – auch das hat der stern enthüllt – verprügelte Polizisten. Martin Luther war ein übler Antisemit. Und Martin Luther King war bekannt für seine sexuellen Eskapaden. Es sollen FBI-Dokumente über Sexpartys existieren, die man heute als #MeToo-Fall einstufen würde. Angeblich.

Henri Nannen gründete einst die Kunsthalle Emden, mit bedeutenden Werken von Künstlern, die von den Nazis als "entartet" verfolgt wurden. Zur Eröffnung kam der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, wie Nannen eine ambivalente Figur: ein Karriere-Offizier der Wehrmacht, Träger des Eisernen Kreuzes 1. und 2. Klasse. Bei den Nürnberger Prozessen verteidigte er seinen Vater, der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde.

Historiker und selbst Weizsäckers Sohn Fritz warfen dem wortgewaltigen Politiker vor, über seine eigene Rolle im Nationalsozialismus verdächtig laut geschwiegen zu haben. Aber ohne Richard von Weizsäcker hätten die Deutschen sich ihrer Vergangenheit nicht ernsthaft gestellt. Was wiegt schwerer?

Wer als Vorbild nur Menschen ohne jeden Makel akzeptieren kann – das Gute pur –, landet schnell bei den Puritanern. Wer nach Reinheit strebt, muss säubern.

Der stern-Gründer Henri Nannen

Auch wenn der moralische Rigorismus mitunter über das Ziel hinausschießt, bleibt das Projekt "Aufarbeitung der Vergangenheit" weiter unverzichtbar für diese Gesellschaft. Und es kann nicht nur auf die NS-Vergangenheit beschränkt bleiben. Deutschland hat sich neben dem Faschismus noch zwei weiteren dunklen Kapiteln seiner Geschichte zu stellen.

Porträt Mutter Teresa

Über diese historischen Persönlichkeiten wird gestritten, weil ihre Ansichten und ihr Verhalten heutigen Werten widersprechen: Die Ordensschwester Mutter Teresa

© imago stock&people

Das Unrecht der DDR ist längst noch nicht zufriedenstellend bearbeitet worden. Und mit der Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte wurde noch gar nicht ernsthaft begonnen. Dabei geht es jedoch nicht vorrangig um Verurteilung, sondern um Aufklärung. Zuallererst müssen die Fakten recherchiert und veröffentlicht werden. Diese Haltung gehört zum Erbe von Journalisten wie Marion Gräfin Dönhoff und Rudolf Augstein. Und Henri Nannen.

Man kann einen Teil der deutschen Vergangenheit und ihrer Aufarbeitung am Beispiel von Henri Nannen erzählen. Bei Hitlers Nationalsozialismus hat er mitgemacht. In den Nachkriegsjahren weigerten sich die Deutschen, sich ihren Verbrechen zu stellen. Und Nannen belästigte sie nicht damit. Als schließlich die 68er ein anderes, freieres Deutschland wollten, gehörte er zu den Befreiern. Nannen unterstützte Willy Brandt bei der Aussöhnung mit Polen und der Sowjetunion zu einem Zeitpunkt, als auch die Mehrheit der Deutschen dazu bereit war. Als zehn Jahre später die TV-Serie "Holocaust" das Tätervolk aufwühlte, bekannte der _stern_-Chefredakteur in seinem wichtigsten Editorial, dass er sich für den Leutnant Nannen aus der Nazi-Zeit schäme: "Ja, ich wusste es, und ich war zu feige, mich dagegen aufzulehnen."

Henri Nannen war wie das Land, in dem er lebte. Er verkörpert nicht nur das Tätervolk, sondern auch das, was sich bei Kriegsende die Welt von Deutschland zwar erhoffte, aber kaum jemand ernsthaft erwartete: eine überzeugende Umkehr.

Darum ist Henri Nannen ein richtiges Beispiel für die nächste Phase der Auseinandersetzung um die Vergangenheit der Deutschen.

Erschienen in stern 26/2022