Chirurgin: "Wir versuchen, den Patienten teilweise eine Scheinwelt vorzugaukeln" (original) (raw)
Die Medizin kann weniger heilen, als sie verspricht, sagt die Klinikdirektorin Doris Henne-Bruns im _stern_-Podcast "Die Boss". Es gehe oft mehr um Geld als um die Menschen.
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Viele Menschen hätten überzogene Vorstellungen davon, was Ärzte leisten können, sagt die Chirurgin und Klinikdirektorin Doris Henne-Bruns im _stern_-Podcast "Die Boss". "Von der Medizin erwarten wir ja so eine Art Heilsversprechen, alles ist machbar. Aber es ist nicht alles machbar." Schuld an den falschen Erwartungen seien aber nicht die Patienten, sondern Mediziner, die mehr versprächen, als sie heilen könnten. Denn das Kliniksystem soll wirtschaftlichen Profit abwerfen. "Wir versuchen, den Patienten teilweise eine Scheinwelt vorzugaukeln."
Die erste Frau in Deutschland mit Lehrstuhl in der Chirurgie
Doris Henne-Bruns ist Ärztliche Direktorin der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie an der Universitätsklinik Ulm und ist auf Tumorchirurgie spezialisiert. Sie wurde 2001 als erste Frau in Deutschland auf einen Lehrstuhl der Chirurgie berufen. "Ich muss mich jedes Jahr in den Budgetverhandlungen damit auseinandersetzen, wie viel wir eingenommen haben", sagt sie. "Das führt dazu, dass ich, wenn Sie mir (als Patientin, Anm. d. Red.) gegenübersitzen, als erstes gucke – ich sage es jetzt sehr überspitzt – was aus Ihnen herauszuholen ist. Und das ist ja die völlig falsche Betrachtungsweise. " Das deutsche System sei teuer und erbringe trotzdem für den Patienten nicht die besten Ergebnisse.
Der Kommerz im Gesundheitssystem schrecke junge Ärztinnen und Ärzte ab
Die Medizinerin, die in wenigen Wochen in den Ruhestand geht, warnt vor einem Nachwuchsmangel für Führungspositionen in der Medizin. Nicht nur Frauen, sondern auch Männer fühlten sich von den derzeitigen Rahmenbedingungen abgeschreckt. Viele wollten gar nicht mehr Chefarzt werden, sagt sie, weil der Gestaltungsspielraum "maximal begrenzt" sei. Ebenso fehle das nötige Personal bei Ärzten wie Pflegern, Stellen würden wegen des wirtschaftlichen Drucks oft nur zögerlich nachbesetzt. Es wachse zudem eine junge Ärztegeneration heran, die nur noch das kommerzialisierte System kenne. "Darin sehe ich eine riesige Gefahr", sagt Henne-Bruns. Sie gehört auch zu den Unterzeichnern des "Ärzte-Appells", den der stern 2019 initiiert hat. In ihm fordern Mediziner und Ärzteverbände einen Systemwechsel in der Medizin.
![Prof. Dr. med. Doris Henne-Bruns bei Gruner + Jahr](https://image.stern.de/9369588/t/Fr/v5/w960/r1.7778/-/die-boss-4-bild-2.jpg ""Die Boss": Prof. Dr. med. Doris Henne-Bruns bei Gruner + Jahr")
Prof. Dr. med. Doris Henne-Bruns bei Gruner + Jahr
© Carolin Windel
Im _stern_-Podcast erzählt Henne-Bruns auch von ihrer Rolle als weibliche Pionierin in der Chirurgie: Als sie vor der Frage stand, ob sie diese Karriere anstreben solle, sei sie auf viele Bedenkenträger gestoßen, habe sich aber dennoch dafür entschieden. In einer "Teamleistung" mit ihrem Mann, der ebenfalls Arzt ist, habe sie es geschafft, lange Tage im Operationssaal mit dem Familienleben rund um ihren kleinen Sohn zu vereinbaren. Ihre Biografie würde sie "Im Haifischbecken" nennen. Jungen Frauen, nicht nur in der Medizin, rät sie: "Hören Sie auf Ihre eigene Stimme und nicht auf gut gemeinte Ratschläge."
Im _stern_-Podcast "Die Boss – Macht ist weiblich" sprechen Spitzenfrauen unter sich: Gastgeberin und Multi-Aufsichtsrätin Simone Menne (z.B. BMW, Deutsche Post DHL, Henkel) trifft Chefinnen aus allen Gesellschaftsbereichen, um mit ihnen über ihr Leben und ihre Karriere zu reden. "Die Boss" erscheint vierzehntäglich immer mittwochs auf stern.de und dem Youtube-Kanal des stern sowie auf Audio Now und allen gängigen Podcast-Plattformen.