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Rat vom Jobcoach Meine Kollegin wird zu Hause geschlagen – wie kann ich ihr helfen?
Häusliche Gewalt ist oft ein Tabuthema
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Frau O. hat einen Verdacht: Die sonst so fröhliche Kollegin wird von ihrem Freund geschlagen. Beraterin Reinhild Fürstenberg erklärt, wie man als Kollegin das Thema häusliche Gewalt ansprechen kann – und was den Betroffenen hilft.
Die Zahl der Opfer von häuslicher Gewalt durch den (Ex-)Partner ist in Deutschland während der Corona-Krise deutlich gestiegen. Bis zu 20 Prozent in manchen Bundesländern. Die Dunkelziffer ist vermutlich noch höher. Es passiert in beengten Wohnverhältnissen genauso wie in der Reihenhaussiedlung und der großbürgerlichen Villa. Zwei Drittel der Opfer sind Frauen.
Dass sich die Situation durch Lockdown und Enge im Homeoffice weiter verschärft hat, zeigen auch die steigenden Zahlen der Ratsuchenden im Fürstenberg Institut, die selber oder im nahen Umfeld häusliche Gewalt erfahren. Darunter erfolgreiche Manager, denen im Streit schon mal "die Hand ausgerutscht ist" oder die junge Frau, die sich selbst nicht wiedererkennt, weil sie ihren Ehemann anschreit "bis die Nachbarn klingeln". Und es kommen Menschen in die Beratung, die sich Sorgen um Kolleg*innen machen, weil sie Veränderungen wahrnehmen, die psychische oder körperliche Gewalt durch den Partner vermuten lassen.
Anders als man im ersten Moment vielleicht denken mag, ist häusliche Gewalt tatsächlich auch ein Arbeitsplatzthema – in seinen Auswirkungen auf den Arbeitsplatz. Menschen, die Gewalt zu Hause erfahren, leiden u. a. unter Konzentrationsstörungen, zeigen oft anhaltende Leistungsdefizite und fehlen häufig. Auch das Verheimlichen ihrer Situation kostet sie viel Kraft. Für das Team und die Vorgesetzten ist ihr Verhalten oft schwer zuzuordnen.
Reinhild Fürstenberg ist Gesundheitswissenschaftlerin, systemische Beraterin und Familientherapeutin. Das von ihr geleitete Fürstenberg Institut aus Hamburg berät Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter, wie sie psychische Belastungen reduzieren, Veränderungen gesund gestalten und die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben verbessern können. Für den stern berichtet die Expertin in loser Folge von Fällen aus ihrer Beratung - und erklärt, was wir daraus lernen können.
© Verena Reinke
Verdächtige Anzeichen
Wer aufmerksam ist und seine Kolleg*innen gut kennt, nimmt in der Regel auch beim Arbeiten auf Distanz wahr, wenn etwas nicht stimmt. Wie Frau O. Sie kommt in die Beratung und schildert, dass eine Kollegin, die früher immer einen natürlichen Look hatte, an manchen Tagen plötzlich dick geschminkt in der Videokonferenz sitzt – so, als ob sie etwas verdecken wollte. Einmal war die Kollegin vormittags nicht zu erreichen und in den nächsten Tagen war ihre Kamera kaputt, sodass sie an dem Meeting ohne Bild teilnahm. Das allein hätte Frau O. noch nicht beunruhigt, doch sie wusste aus der langjährigen Zusammenarbeit, dass es in der On-/Off-Beziehung ihrer Kollegin kriselte und der Freund oft "temperamentvoll" reagierte.
In den Monaten der Pandemie war die sonst fröhliche Kollegin immer schweigsamer geworden und hatte sich weder am Small Talk vor Meetings noch an den freiwilligen digitalen Abendveranstaltungen des Teams beteiligt. Als sie sich nun krankmeldet, weil sie sich bei einem "Sturz" den Arm gebrochen hat, schrillen bei Frau O. die Alarmglocken. Sie befürchtet, dass ihre Kollegin zu Hause Gewalt erfährt und möchte helfen – nur wie?
16. Januar 2021,09:57
Raus aus der Tabuzone
Wie bei allen Belastungen und negativen Veränderungen, die wir an unseren Mitmenschen wahrnehmen, ist auch bei der Vermutung von häuslichen Gewalterfahrungen das direkte Ansprechen der richtige Weg. Mit Aussagen oder Nachfragen wie: "Ich mache mir Sorgen um dich!", "Ist das blaue Auge wirklich deiner 'Tollpatschigkeit' geschuldet?" und vor allem auch: "Ich möchte Dich unterstützen, die richtige Hilfe zu bekommen". Wichtig ist, dass das Opfer gestärkt wird, sich zu trauen, aus der Tabuzone der Gewalt in den eigenen vier Wänden herauszutreten – und das ist für viele sehr schwer. Scham und Schuldumkehr, wie "ich habe ihn aber auch gereizt", spielen dabei eine große Rolle.
Oft wiegen auch vielfältige Abhängigkeiten schwer, das können Kinder sein oder finanzielle Aspekte. Und dazu die große Angst, dass ein Offenmachen der Situation zu neuen und möglicherweise noch schlimmeren Gewalttätigkeiten führt. Daher ist es wichtig, auf unterschiedlichen Ebenen für häusliche Gewalt zu sensibilisieren. Je mehr das Thema in der Öffentlichkeit präsent ist, die Opfer sozusagen eine "Lobby" haben, umso eher werden Betroffene sich trauen, sich mit ihrem Leiden jemandem anzuvertrauen und es auch justiziabel zu machen. Solche Aufklärungsarbeit schafft auch im (beruflichen) Umfeld eine größere Sensibilität dafür, hinzuschauen und Hilfe anzubieten. So wie bei Frau O.. Sie wird das Gespräch mit der Kollegin suchen. Und hoffentlich damit einen wichtigen Anstoß für die Betroffene erreichen können.
Wichtig ist auch, dass eins klar wird: Die Corona-Zeit haben viele Menschen als verunsichernd und herausfordernd erlebt. Die Angst zu erkranken, wirtschaftliche Unsicherheit, Isolation und wenig Freiraum haben dazu geführt, dass die Nerven blank liegen. Dadurch, dass Leben und Arbeiten, mitunter auch Schule, auf engem Raum stattfinden, entsteht bei Paaren und Familien ein Dichtestress. Eine Rechtfertigung für Gewalt und Aggression ist das jedoch nicht!
Aber Gewalttätigkeit oder Gewalterfahrungen – auch die ersten Anzeichen – sind ein untrügliches Zeichen, dass sich etwas ändern muss. Denn bis zum "ersten blauen Auge" gibt es eigentlich immer eine Vorgeschichte von verbal verletzendem Verhalten wie lautem Anschreien, Einschüchterungen und Beleidigungen. Schon das erste ungute Gefühl und die Angst im Streit mit dem / der Partner*in, dass er oder sie handgreiflich werden könnte, muss unbedingt ernst genommen und als Alarmsignal wahrgenommen werden: Hier läuft etwas aus dem Ruder!
Das Gute: An diesem Punkt kann zum Beispiel in Beratungen mit der Erarbeitung von Konfliktlösestrategien und Techniken zum Aggressionsabbau noch sehr gut angesetzt werden. Außerdem entscheidend: Menschen, denen Aggression oder Gewalt widerfährt, müssen gestärkt werden. Nur so kann es Ihnen gelingen, aus der ohnmächtigen Opferrolle herauszutreten und sich Hilfe zu holen.
Bei diesen Anzeichen sollte das Umfeld aufmerksam werden
- Vertrauen Sie auf Ihr Bauchgefühl! Reagieren Sie auf sozialen Rückzug, Veränderungen der Persönlichkeit oder natürlich auf Verletzungen, die Sie sehen können – am besten mit konkreten Nachfragen bei der Person. Sprechen Sie Ihre Vermutung an. Aber bedenken Sie: Die meisten Betroffenen schämen sich sehr für das, was Ihnen zustößt.
- Lassen Sie Äußerungen wie zum Beispiel "der wird neuerdings immer so laut im Streit" oder "letztens dachte ich wirklich, gleich knalle ich ihm eine" nicht einfach im Raum stehen. Zeigen Sie, dass Sie aufmerksam sind und fragen Sie nach.
Was können Betroffene selbst tun? Wo können Sie sich Hilfe holen?
Nehmen Sie sich selbst und die Tat ernst! Schuldgefühle sind absolut fehl am Platz: Niemand darf Gewalt auf Sie ausüben. Stellen Sie sich vor, Ihre Freundin erzählt Ihnen die gleiche Situation: Würden Sie sie für schuldig befinden? Was würden Sie ihr raten?
Wenden Sie sich an eine vertraute Person. Das kann eine Freund*in, eine Kolleg*in oder ein Familienmitglied sein, auch Ihre Hausärzt*in.
Häusliche Gewalt ist eine Straftat. Eine Anzeige können Sie bei jeder Polizeidienststelle erstatten. Weitere Informationen der Polizei zur häuslichen Gewalt: https://www.polizei-beratung.de/opferinformationen/haeusliche-gewalt/
Hilfestellen und Opferverbände wie WEISSER RING e.V. (www.weisser-ring.de, Telefon: 116 006) bieten rund um die Uhr anonym und kostenfrei Beratung an. Ebenso das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" unter der Rufnummer 08000 116 016. Mit Hilfe von Dolmetscherinnen ist eine Beratung in vielen Sprachen möglich. Diese Stellen können Sie auch bei der Suche nach einem Anwalt unterstützen.
Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Männer" erreichen Sie unter 0800 123 9900, per E-Mail: beratung@maennerhilfetelefon.de
Auch die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar, unter 0800 111 0111 oder 0800 111 022
Bei der Suche nach einem Frauenhaus unterstützt die Frauenhaus-Koordinierungsstelle: https://www.frauenhauskoordinierung.de/hilfe-bei-gewalt/frauenhaussuche/
* Anonymisiertes Fallbeispiel aus der Beratungspraxis des Fürstenberg Instituts. Der Fall wurde mit dem Einverständnis der Betroffenen anonymisiert.
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