"Sehr sexy": Was tun, wenn der Chef aufdringliche WhatsApp schreibt? (original) (raw)

Sexuelle Belästigung im Job

Bei Grapschern ist der Fall offensichtlich - sexuelle Belästigung kann aber schon viel niederschwelliger anfangen

© tomazl / Getty Images

Frau S. fühlt sich von den Sprüchen und WhatsApp-Nachrichten ihres Chefs belästigt – und muss lernen, sich zur Wehr zu setzen. Der Fall zeigt: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz beginnt nicht erst, wenn jemand grapscht.

Vor mir sitzt Frau S., 37 Jahre, seit ein paar Monaten leitende Mitarbeiterin in einem großen Unternehmen. Sie ist sich nicht ganz sicher, an wen Sie sich wenden soll und ob sie bei mir überhaupt richtig ist, denn es ist ja eigentlich nichts passiert…

Was war denn "eigentlich nicht passiert"?, frage ich Frau S. Tatsächlich ist sie eigentlich sehr zufrieden in ihrem Job. Sie führt ein kleines Team, hat spannende Aufgaben und bekommt gutes Feedback. Dennoch will sie am liebsten nicht mehr zur Arbeit, denn ihr Bereichsleiter, ein langjähriger Mitarbeiter des Unternehmens, macht ihr zu schaffen: Wenn Herr M. mit den anderen Kollegen im Team zotige Frauen-Witze reißt, verstummen sie und ihre Kolleginnen – was sollen sie auch sagen? Daran hatte sie sich irgendwie gewöhnt. An seine Blicke allerdings nicht. Die harmlosen Fragen zu ihrem Beziehungsstatus und Anspielungen zu ihrem Aussehen konnte sie jedes Mal professionell überspielen. Auf einer Betriebsfeier kam er ihr aber immer wieder sehr nahe, wollte sie nach Hause begleiten und schickte ihr noch in derselben Nacht mehrere WhatsApp-Nachrichten. Dazu das vermeintliche Kompliment, sie habe an dem Abend "sehr sexy" ausgesehen.

Reinhild Fürstenberg

Reinhild Fürstenberg ist Gesundheitswissenschaftlerin, systemische Beraterin und Familientherapeutin. Das von ihr geleitete Fürstenberg Institut aus Hamburg berät Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter, wie sie psychische Belastungen reduzieren, Veränderungen gesund gestalten und die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben verbessern können. Für den stern berichtet die Expertin in loser Folge von Fällen aus ihrer Beratung - und erklärt, was wir daraus lernen können.

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Seitdem wisse sie nicht mehr so richtig, wie sie sich verhalten soll: Sie fühlt sich wohl im Unternehmen und möchte keinen Ärger. Reden möchte sie mit Herrn M. zunächst nicht. Das hat sie versucht, aber er sagte nur, sie solle sich nicht so anstellen. Die Berührungen seien rein zufällig gewesen, die Nachrichten "nur ein Witz".

Typischer Fall von Schuldumkehr

Was hier passiert war, ist ganz typisch für Fälle sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und nennt sich "Schuldumkehr": Herr M. wurde gegenüber Frau S. sowohl non-verbal durch seine Blicke und WhatsApp-Nachrichten als auch verbal durch seine derben Witze und Fragen und sogar physisch auf der Feier übergriffig. Durch die Einordnung seines Verhaltens als harmlos und ihres Verhaltens als verklemmt machte Herr M. Frau S. für ihr Problem verantwortlich – "Ist sie doch selbst schuld!" – und gleichzeitig mundtot.

09. Dezember 2020,10:37

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Unsere erste Beratungsstunde nutzte ich daher für eine gründliche Aufklärung zum Thema selbst, zu ihren Rechten und zu ihren Wahlmöglichkeiten. Zum Beispiel hat sexuelle Belästigung im beruflichen Kontext in der Regel nichts zu tun mit Kontakt-Anbahnung und Sexualität, sondern vielmehr mit Machtmissbrauch, Hierarchie-Demonstration, Konkurrenz-Ausschaltung, oder der Untergrabung von Autorität.

Dennoch ist ihre Reaktion auf Herrn M. ausschlaggebend. Er braucht ein STOPP, ein klares Signal, dass er die Grenzen von Frau S. überschritten hat, damit er sein Verhalten ändern kann – denn vielen Grenzüberschreitern mangelt es an Bewusstheit hinsichtlich ihrer Wirkung auf andere. Ich kann Frau S. davon überzeugen, dass sie noch einen Gesprächsversuch startet. Wir üben ganz praktisch, wie sie diese kurze "Ansage" auf ihre Art machen kann. Gleich am nächsten Arbeitstag will sie ihn sprechen.

Wer nicht einsichtig ist, muss Konsequenzen spüren

Außerdem ermutige ich Frau S., dass sie sich - wenn Herr M. sich im Gespräch nicht einsichtig zeigt und sein Verhalten nicht deutlich ändert, an die Beschwerdestelle ihres Unternehmens wenden kann. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verpflichtet den Arbeitgeber zu absolutem Schutz seiner Mitarbeiter*innen und muss im Ernstfall eines sexuellen Übergriffs schnellstmöglich dafür sorgen, dass das Verhalten unterbunden wird. Zum Glück ist mir bekannt, dass das Unternehmen von Frau S. eine Prozessstruktur für Fälle wie ihren etabliert hat.

Frau S. ist nach der Stunde erleichtert. Es tat gut, offen mit jemandem über ihre Erlebnisse zu sprechen. Sie ist gespannt auf das Gespräch mit Herrn M. und froh, nicht in der duldenden Opferrolle verharren zu müssen, sondern aktiv etwas tun zu können, um der Belästigung ein Ende zu setzen.

Beim nächsten Gespräch erfahre ich, dass das persönliche Gespräch mit Herrn M. leider ohne Ergebnis verlief. Das Unternehmen hat dennoch angemessen reagiert: Nach einer offiziellen Beschwerde von Frau S. ist Herr M. an eine andere Position versetzt worden. Warum? Frau S. war kein Einzelfall – es zeigte sich, dass Herr M. schon mehrere Mitarbeiterinnen aller Hierarchie-Ebenen belästigt hatte. Im Unternehmen waren seit längerer Zeit Gespräche mit ihm geführt worden. Der Fall von Frau S. war nun der Anstoß für eine Abmahnung und die Versetzung des langjährigen Mitarbeiters.

Hier meine Tipps für Sie:

* Anonymisiertes Fallbeispiel aus der Beratungspraxis des Fürstenberg Instituts. Der Fall wurde mit dem Einverständnis der Betroffenen anonymisiert.

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