Thomas Brasch-Hommage „Lieber Thomas“ auf Arte: Wo ich nie gewesen bin (original) (raw)

In "Kargo", jener lyrischen Großmontage, die zu den bekanntesten Werken von Thomas Brasch zählt, gibt es einen Satz, den man wie eine Empfehlung an spätere Biografen lesen kann: "Vielleicht sollten alle Geschichten mit ,Vielleicht' anfangen, damit die Möglichkeit der Geschichten klar wird und keine lineare Biografie zustande kommt, die langweilig ist." Andreas Kleinert, der aus Braschs Leben einen Kinofilm gemacht hat, muss diesen Satz kennen, denn er hat sich an die Empfehlung gehalten.

"Lieber Thomas" ist eine solche Vielleicht-Geschichte geworden, zum Glück, und deshalb spielt der im Augenblick wohl größte deutsche Kinostar Albrecht Schuch den jungen Thomas Brasch auch exakt so, wie er vielleicht gewesen ist: rebellisch, trunksüchtig, promiskuitiv begehrend und begehrt und im qualvollen Widerstreit mit seinem Vater, dem SED-Funktionär Horst Brasch, den Jörg Schüttauf als einen in Ideologie und Traurigkeit verpanzerten Mann zeigt.

Die Familie Brasch, das weiß man aus vorangegangenen Filmen und Dokumentationen und nicht zuletzt aus den Erzählungen der Tochter Marion Brasch, stand modellhaft für die Zerrissenheit, die Kämpfe und Demütigungen aus beiden deutschen Diktaturen. Horst Brasch und seine Frau Gerda Wenger, beide waren Juden, lernten sich im Exil kennen, 1945 wird Thomas in dem nordenglischen Kaff Westow geboren. Nach der Übersiedlung in die sowjetisch besetzte Zone steigt der Vater zum stellvertretenden Kulturminister der DDR auf, bis zu seinem Tod im Sommer 1989 bleibt er ZK-Mitglied, hart und auf verbiesterte Weise an die längst zerbröckelnde Verheißungsbotschaft des Sozialismus glaubend.

Am Beginn des Films fahren Vater und Sohn im Auto singend über Land, die Reise endet in der Kadettenschule der Nationalen Volksarmee. Drill, Nasenbluten, Urindusche für den Feigling - es ist schon einiges von dem dabei, was Brasch später als jungen Erwachsenen am kadergeschmiedeten Sozialismus abstoßen wird. Nachdem ihn sein Vater an die Stasi verraten hat, kommt er zunächst in den Knast und muss dann, als Haftersatz, im Transformatorenwerk Oberschöneweide als Fräser schuften. Da kann Thomas dem Alten auf seine Frage, was er dort gelernt habe, antworten: "Dreck, Suff, Verrat, also Sozialismus vom Feinsten."

In jenen harten Arbeitertagen stößt Brasch auf die Geschichte des Frauenmörders Karl Brunke. Sie wird eine lebenslange Obsession des Dichters Brasch. Kleinert bildet sie in einer ziemlich abgefahrenen Traumsequenz ab: Eine der Arbeiterinnen aus dem Kohlewerk kommt mit ihrer Schwester zu Brasch. Beide verlangen, von ihm erschossen zu werden, wie es sich die Mädchen von Brunke erbaten. Brasch willigt ein und schießt den Frauen in die entblößte Brust. Kleinert lässt kein Motiv anbrennen. Sein Brasch ist ein Krieger. Er will töten, was ihn tötet, aber seine Waffen richtet er nur gegen sich selbst.

"Lieber Thomas" - den Titel hat sich Kleinert von Braschs dunklem Drama über den Kriegs- und Todesträumer Georg Heym ausgeliehen ("Lieber Georg", 1980). Heym hat in seinem Tagebuch den eigenen Erstickungstod beim Eislaufen auf der Havel vorausgeträumt. Das dünne Eis, auf dem auch Thomas Brasch um sein Leben rennt, ist jenes Terrain, auf dem der Schriftsteller sein Gefecht um die Wahrheit austrägt. Mit dem Staat und, stellvertretend, mit dem Vater. Die Szenen, in denen Albrecht Schuch und Jörg Schüttauf ihren Kampf darum, was die Wahrheit sei, aufführen, gehören zu den stärksten des Films. Der Rebellensohn und der von den Lebenslügen traurig-zornige Alte verwüsten die Familie jeder auf seine Weise. Auch der jüngere Sohn Klaus bewundert den älteren Bruder Thomas, er will Schauspieler werden und geht an sich selbst und an den Verhältnissen zugrunde.

Mit den ersten Gedichten und Stücken, die in der DDR niemand drucken und aufführen will, beginnt Braschs Künstlertum, das im Film alle Facetten der ostdeutschen Bohème trägt. Kleinert inszeniert seinen Film in Schwarz-Weiß, das ist ja die Farbkombination der Erinnerung. In den engen, gleichwohl großflächig verwanzten Wohnungen wird gefeiert, getanzt und erstaunlich viel gevögelt. Die Frauen von Thomas Brasch sind selbst bedeutende Figuren der DDR-Geschichte: die Liedermacherin Bettina Wegner, Paula Hans spielt sie, hat mit Brasch einen Sohn, der ihn kaum interessiert. Aber mit der dunkelstimmigen rumänischen Sängerin Sanda Weigl rennt Brasch nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag durch das dunkelgraue Ost-Berlin und verteilt Flugblätter - auf einem soll "In Prag ist Pariser Commune, sie lebt noch" gestanden haben, schreibt jedenfalls der Dichter dieser Zeile, Wolf Biermann, in seiner Autobiografie.

Kleinert lässt Brasch genial wüst drauflosdichten, immer wieder

Braschs große Liebe wird jedoch Katharina Thalbach, im Film von Jella Haase verkörpert, die sein bald von der Bühne gefegtes erstes Stück "Lovely Rita" spielt und den verbotenen Dichter 1976 in den Westen begleitet. Brasch, der vormalige Fluchtverächter, geht rüber, nachdem sein Prosawerk "Vor den Vätern sterben die Söhne" von einem treu sorgenden Erich Honecker verboten wird. Der Staatsratsvorsitzende, dessen Rolle Kleinert fein-ironisch ebenfalls mit Schüttauf besetzt hat (der Honecker schon 2017 in der Komödie "Vorwärts immer !" parodierte), will ja nur den begabten Jungen vor sich selbst schützen. Grell ist der Westen, der Kapitalismus will den genialen Dichter verschlingen, Brasch wehrt sich, in einer der von Kleinert klug eingestreuten mörderischen Fantasien sogar gemeinsam mit seiner toten Mutter. Da schießen sie vom Fenster aus auf Polizisten und den Hausmeister, dem Brasch ins Gesicht sagt: "Diese Augen haben Auschwitz gesehen." Andreas Baader und Gudrun Ensslin stehen Pate für diese Entladungsillusionen.

Irgendwann gewinnt man dann aber doch den Eindruck, dass Andreas Kleinert spätestens dann dem Leben des Thomas Brasch hinterherzurennen beginnt, als der Dichter seine Lesereise nach New York antritt, wo er zum dollarschweren Exportartikel werden soll. Der kalt-schmeichlerische Agent, der in den Gully geworfene Schlüssel für das Luxus-Schreibappartement am Central Park, wo Brasch für 100 000 Dollar einen Roman schreiben soll; das in Aussicht gestellte Lebensmärchen und der Rebell, der sich dem Zauber verweigert - so viel Redlichkeit tut dem markthörigen Kulturarbeiter beim Zuschauen weh.

Thomas Brasch mit seiner Freundin, der Schauspielerin Katharina Thalbach, 1981 in Berlin. (Foto: dpa/picture alliance)

Es gibt ein lyrisches Leitmotiv für den Film, der sich aus den Zeilen von Braschs berühmtestem Gedicht zusammenfügt: "Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber wo ich bin, will ich nicht bleiben ...", an dessen Ende die traurig-schöne Dialektik des ungetrösteten Heimatsuchers steht: "Bleiben will ich wo ich nie gewesen bin." Kleinert lässt Brasch genial wüst drauflosdichten, immer wieder, im Osten wie im Westen zerhämmert der Dichter seine Schreibmaschinen. Manisch wechselt Brasch von der Koksspur zur Gedichtzeile, die schöne, beunruhigende Wildheit seiner Poesie, auch das zeigt der Film, hat zum Glück mehr vom verfluchten Rimbaud als vom kalkulierenden Brecht. Zweimal zeigt Kleinert einen nackten Frauenkörper, vollgetextet mit der Dichterhandschrift. Natürlich kann man Leidenschaft, in der Liebe wie in der Literatur, so allegorisieren.

Am Ende versinkt Brasch im Schweigen und im 16 000-Seiten-Elend seines Großromans über den Mörder Brunke - die Stapel liegen auf dem Schreibtisch, dazwischen das von Koks und toten Träumen verwüstete Gesicht des älteren Brasch. Dessen Rolle übernimmt jetzt Peter Kremer, mit dem Auftrag, den unglücklichen deutschen Dichter Thomas Brasch mit auf die letzte Reise zu nehmen. Dass Kremer dem echten Brasch so brutal ähnlich sieht, hilft sicher dabei, diese letzten Filmminuten zu sehr großen und unvergesslichen Szenen werden zu lassen.

Im schwarzen Anzug nimmt er Abschied von Berlin, trinkt einen Whisky im leeren Restaurant Ganymed, steigt ins Auto, fährt ins graue Kindheitsleben zurück und winkt am Ende aus dem Flugzeug - ein Entkommener, als wäre Brasch das je gewesen. Kurz zuvor hat man noch den jungen Brasch vor der Leiche des toten Vaters gesehen, 1989 in der Pathologie der untergehenden DDR. Das erschöpfte Lächeln des Toten findet sich auf dem Gesicht des sterbenden Thomas Brasch wieder. Vor den Vätern sterben die Söhne, ja, das stimmt, denn der Satz hat nichts mit Chronologie zu tun, sondern mit dem Gift der Lüge, gegen das kein so lebenswütiger Körper ankommt.