Tatort-Kritik: Frauen, kriegt Kinder, denn Lindholm ist schwanger (original) (raw)
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Tatort-Kritik
Frauen, kriegt Kinder, denn Lindholm ist schwanger
Veröffentlicht am 14.04.2007Lesedauer: 7 Minuten
Die von Maria Furtwängler verkörperte Kommissarin Charlotte Lindholm erfährt von ihrer SchwangerschaftQuelle: NDR Presse und Information
Es war ein düsteres Thema, dessen sich "Das namenlose Mädchen" annahm: Gewalt gegen Kinder. Und es hätte leicht passieren können, dass der Tatort in Platituden verfallen wäre. Die ermittelnde Kommissarin wurde nämlich schwanger. Der Krimi war trotzdem gut.
Es gab mal eine Zeit, es ist noch gar nicht so lange her, da galten hyperaktive Kinder als schlecht erzogene Rotzlöffel. Wer im Schulunterricht ständig unaufmerksam war und ein vorlautes Mundwerk hatte, war ein Klassenkasper. Wer zuhause nur den Rebell gab und seine Eltern mit Schreikrämpfen und Wutausbrüchen drangsalierte, war ein Wüterich. Und wer nicht in der Lage war, sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren und ständig in Gedanken wo anders war, war je nach Sichtweise ein Faulenzer oder ein phantasiebegabtes Kind. Heute ist das anders. Heute sucht man nicht mehr nach Entschuldigungen, sondern nach Ursachen. Und so kam es, dass der vom Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann 1845 im „Struwwelpeter“ sehr anschaulich als „Zappelphilipp“ beschriebene Unruheherd von früher zum ADHS-Patienten von heute wurde.
ADHS ist die Abkürzung für das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine genetisch bedingte Krankheit bei der Kinder an starker innerer Unruhe und an Konzentrationsschwächen leiden, die sie oft mit rücksichtslosem Stören oder einer übermäßigen Lautstärke beim Spielen wieder wett machen wollen. Die Krankheit ist nicht heilbar. Man kann nur lernen, sie in den Griff zu bekommen. Doch viele Eltern und Lehrer geraten bei dem Versuch die schlimmsten Spitzen der Ausbrüche ihrer Schützlinge zu kappen, an den Rand der Verzweiflung. Auch in dem neuen Tatort „Das namenlose Mädchen“ stellt die ADHS-Krankheit des jüngsten Sohnes eine Familie aus Osnabrück vor eine schwere Zerreißprobe. Und so kommt es, dass Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) den vermeintlichen Unfalltod eines vierjährigen Jungen als möglichen Mordfall wieder aufrollen muss.
Worum geht's?
Die Leiche eines unbekannten Mädchens wird auf einem Fabrikgelände in Osnabrück in einem leeren Güterwagon entdeckt. Mühsam und nur mit viel akribischer Ermittlungsarbeit kann Kommissarin Lindholm die Identität der jungen Frau ermitteln. Die neunzehnjährige Carol Stern ist aus Irland nach Osnabrück gekommen, um an der Fachhochschule Textiles Design zu studieren. Ihr Geld hat sie sich als Babysitterin bei der Familie Mende verdient: Vater, Mutter, ein siebzehnjähriger Sohn und ein vierjähriger Zappelphilipp namens Frederik. Doch nicht nur Carol, sondern auch ihr Au-Pair-Kind Frederik ist inzwischen tot. Er ist an einem Stück Brot erstickt. Ein Unfalltod also. Doch Kommissarin Lindholm wird stutzig. Kann das Zufall sein? Sind die beiden Todesfälle miteinander verbunden?
Bei den Mendes erfährt Lindholm nur wenig über das irische Kindermädchen. Und der Fall wird für die Ermittlerin nicht einfacher, als sie herausfindet, das dass Mordopfer in Wahrheit weder Carol hieß noch dass sie neunzehn Jahre alt war. Niemand scheint etwas über das namenlose Mädchen zu wissen. Verdächtig macht sich deshalb zunächst Carols Mentor Richard Voigt (Martin Feifel) dessen Webkurs an der FH die junge Irin besucht hat und der zu einer zwielichtigen Vaterfigur für das Mädchen geworden ist. Auch seine Frau hat das mit viel Argwohn beobachtet.
Doch auch die Eltern und der Bruder des toten Frederik, bei denen Carol als Au-Pair gearbeitet hat, sind verdächtig. Über Carol wissen auch sie nicht viel und über den Tod ihres Sohnes schweigen sie beharrlich. Jürgen Mende (Martin Brambach), der Vater des Kindes, wollte die nervenaufreibende ADHS-Krankheit seines Sohnes mit Medikamenten behandeln lassen, doch seine Frau Simone (Ulrike Krumbiegel) wollte gar nicht erst wahr haben, dass ihr Sohn wirklich krank ist. Und Mika (Sergej Moya), der siebzehnjährige Bruder des toten Kindes, fühlte sich im Vergleich zu seinem kleinen Bruder immer nur vernachlässigt. Da passt es gut ins Bild, dass das tote irische Mädchen in der Firma gefunden wird, in der Mika arbeitet. Um der Lage auch nur annähernd Frau zu werden, mausert sich Kripo-Ermittlerin Lindholm in dem Sonntagskrimi zur regelrechten Familienpsychologin. Kein schlechter Schritt. Schließlich erfährt sie in der neuen Folge der Tatort-Reihe, dass sie schwanger ist.
Stärken und Schwächen des Films
Wenn Menschen mit einer Situation überfordert sind, neigen sie oft zu extremen Reaktionen. Der Film „Das namenlose Mädchen“ zeigt eine solche Situation. Fast jede Woche finden sich derzeit in den Zeitungen und im Fernsehen Berichte über häusliche Gewalt gegen Kinder. Und immer wieder steht man als Leser und Zuschauer fassungslos vor der Frage: Warum? Ein Antwort zu finden, ist schwer. Die Gewalt zu verstehen, unmöglich. Zu abgründig sind die Taten. Zu groß das Verbrechen an einem Kind, als dass man nachvollziehen könnte oder auch will, was genau da schief gegangen ist. Der Fall des kleinen Kevin aus Bremen, der von seinem drogensüchtigen Vater erst misshandelt, dann getötet und schließlich im Kühlschrank aufbewahrt worden ist, ist ein solches Beispiel. Kein Deutungsversuch kann das Geschehene auch nur annähernd erklären. Deshalb ist es mutig, dass sich Regisseur Michael Gutmann einem so schwierigen Thema wie der häuslichen Gewalt gegen Kinder in seinem neusten Tatort-Krimi angenommen hat. Die Gefahr ist dabei ziemlich groß, mit platten Gemeinplätzen und viel Laienpsychologie nur banale, publikumsgerechte Erklärungsmuster zu liefern.
„Das namenlose Mädchen“ aber vermeidet diese Schwächen. Mit distanziertem Blick erzählt der Film an einem konkreten Beispiel, wie eine Familie an der Unfähigkeit der eigenen Situation gegenüber zerbricht. Es ist das Schicksal von sozialen Absteigern. Der Vater hat zwei Jobs am Bein, um seine Familie über Wasser zu halten. Er schläft jede Nacht nur vier bis fünf Stunden. Auch die Mutter arbeitet, muss sich aber gleichzeitig noch um ihren an einer schweren Form von ADHS erkrankten Sohn Frederik kümmern. Das Haus in dem die Mendes wohnen, ist viel zu groß und das Geld für ihr mühsames Leben viel zu knapp. Dazwischen krakeelt das hyperaktive und unberechenbare kleine Kind, das alle Beteiligten zur Verzweiflung treibt. Ohne zu werten zeigt der Film die Folgen der Eskalation der familiären Situation. Die Familie ist ein Opfer ihrer Umstände, das ist klar, aber der Film macht zum Glück nicht den Fehler, das daraus entstehende Familiendrama zu entschuldigen.
Wie es um eine Gesellschaft steht, sieht man an den Menschen, die an den Rand gedrängt werden. Dass es heute zunehmend die schwächsten der Gesellschaft sind, die Kinder, die in wachsendem Maße zu leiden haben, zeigt wie weit Anspruch und Wirklichkeit in Deutschland auseinanderliegen. Auf der einen Seite die Diskussion um Krippenplätze und Elterngeld und auf der anderen Seite Tragödien wie im Fall Kevin und die Hilflosigkeit der Behörden im Umgang mit häuslicher Gewalt. Besonders hart trifft es alleinerziehende Mütter.
Da ist die Tatsache, dass Kommissarin Charlotte Lindholm nach einer leidenschaftlichen Begegnung mit einem verheirateten Mann, der als Lebenspartner für sie nicht in Frage kommt, ein Kind bekommt, fast schon ein politisches Statement. Die Idee stammt von Maria Furtwängler. Und es ist ihrem zurückhaltenden Spiel zu danken, dass die private Geschichte der Kommissarin Lindholm nicht mit der Tragik der Ermittlungen im Fall von Clara und Frederik kollidiert. Zwar spielt Furtwängler ihre Kommissarin wie immer recht kühl und distanziert, aber wenn sie Nachts in die Notapotheke rennt, um rauszufinden, ob sie wirklich schwanger ist, spielt sie das wunderbar aufgewühlt und verzweifelt. Auch der Kontrast zwischen Simone Mende (Ulrike Krumbiegel), die als Mutter des kleinen Frederik hoffnungslos überfordert ist, und der von ganz neuen Sehnsüchten und Ängsten geplagten schwangeren Kommissarin ist anspruchsvoll gezeichnet. Die beiden bilden den Pol der Geschichte. Um sie kreist das Drehbuch. Um zwei Frauen, deren Lebenswege sich in einem existentiellen Moment kreuzen. Das macht den Film spannend und in jedem Fall sehenswert.
Sehen oder nicht sehen?
Kein Tatort-Fan sollte den Film verpassen. Wenn es schon mal eine schwangere Kommissarin in der ARD-Reihe gibt, dann möchte man auch dabei sein, wenn sie von ihrem Glück erfährt. Zudem zeichnet der Film ein erschreckend ehrliches Bild vom Versagen der Kontrollmechanismen in einer sozial schwachen Familie, die sich emotional im freien Fall befindet.
Bewertung: Sehenswert. Bewegendes Familiendrama mit engelhafter, schwangerer Heldin
Der Krimi „Das namenlose Mädchen“ mit Maria Furtwängler als Kommissarin Charlotte Lindholm wird am Sonntag, den 15. April um 20.15 Uhr in der ARD ausgestrahlt.