Zurückweisungen von Migranten: Kritik an Polen – „Nein zu menschenunwürdigen Pushbacks“ (original) (raw)

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Zurückweisungen von Migranten

Kritik an Polen – „Nein zu menschenunwürdigen Pushbacks“

Veröffentlicht am 09.11.2021Lesedauer: 6 Minuten

Rund 4000 Migranten haben sich an der belarussischen Grenze zu Polen versammelt. Mit Spaten und Holzstämmen versuchen sie, den Grenzzaun zu durchbrechen. „Die Gruppen sind zunehmend aggressiver“, sagt ein polnischer Regierungssprecher.

Polens harte Zurückweisungen von Migranten, die über Belarus in die EU einreisen wollen, treffen bei den Ampel-Parteien auf harte Kritik. Die Union bringt Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze ins Spiel.

In diesen Tagen entscheidet sich die Zukunft der illegalen Migrationsroute über Belarus. Polen versucht mit Tausenden Grenzpolizisten und Soldaten, so viele Menschen wie möglich zurückzuweisen. Seit Montag ist eine neue Eskalationsstufe erreicht, weil das Regime in Belarus die Migranten dabei unterstützt, in großen Trecks medienwirksam an die Grenze zu marschieren. Dort werden teilweise Rammböcke aus Baumstämmen gebaut, um mit diesen auf Zäune und dahinter postierte Grenzschützer zuzustürmen.

Weder die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) noch ihr wahrscheinlicher Nachfolger Olaf Scholz (SPD) haben Polen bisher den Rücken gestärkt für die harte Zurückweisungslinie. Dabei ist Deutschland das Hauptziel der Migrationsroute.

Noch-Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) stellte sich hingegen hinter den Kurs Warschaus: „Die Polen haben bisher richtig reagiert“, sagte er „Bild“. „Wir brauchen die bauliche Sicherung der Grenzen. Da müssen wir auch öffentlich die Polen unterstützen! Wir können sie nicht dafür kritisieren, dass sie mit zulässigen Mitteln die Außengrenze der EU schützen.“ Die Polen erfüllten „für ganz Europa einen ganz wichtigen Dienst“. Auf die Frage, ob Zurückweisungen rechtlich erlaubt sind, sagte Seehofer: „Ja, der Meinung bin ich. Natürlich nicht mit Schusswaffengebrauch, aber mit den anderen Möglichkeiten, die es ja auch gibt.“

Lukaschenko soll „vor internationale Gerichte“

Aus der sich bildenden Ampel-Koalition kommt nun Kritik an Polens Handeln: Auf WELT-Anfrage an die SPD-Fraktion, ob die Bundesregierung sich in dieser entscheidenden Phase hinter die laut aktuellem EU-Recht problematische Zurückweisungspolitik Polens stellen solle, antwortete der migrationspolitische Sprecher Lars Castellucci: „Gewalt sowie Pushbacks gegen Geflüchtete und Migranten sind verboten, beides ist nicht vereinbar mit unseren fundamentalen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte. Die Grundrechte, darunter der Zugang zu Asyl, müssen an den europäischen Außengrenzen jederzeit gewahrt werden.“

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex solle „sofort Zugang zum polnischen Grenzgebiet bekommen und den Grundrechtsschutz für alle dort sicherstellen. Auch Medien und Hilfsorganisationen müssen Zutritt erhalten.“

Gemeinsam mit den Anrainerstaaten müsse sich die EU um humanitäre Lösungen der Aufnahme kümmern. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko solle vor internationale Gerichte gestellt und angeklagt werden, forderte Castellucci. „Dafür müssen die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden.“

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte WELT: „Wir müssen dringend dafür sorgen, dass es in Richtung Polen zwei Botschaften gibt. Erstens: Nein zu menschenunwürdigen Pushbacks. Und zweitens: Ja zu Solidarität. Und in Richtung Herrn Lukaschenko muss man ganz klar sagen: Die Europäische Union kann und wird nicht etwa Sanktionen lockern. Vielmehr muss die EU die Sanktionen verschärfen.“

FDP-Chef Christian Lindner forderte schärfere Sanktionen gegen Minsk. Der Druck auf Belarus und gegenüber den Fluglinien müsse „erhöht werden, um Schlepperkriminalität und politische Erpressung zu beenden, sagte er zu „Bild“ und forderte zudem mehr Unterstützung für das vor allem betroffene Polen: „Es ist Hilfe für Polen beim humanitären Schutz der Menschen und bei der Grenzkontrolle nötig. Warschau sollte diese Angebote annehmen.“

Wie positioniert sich die Opposition?

Linke-Innenpolitiker André Hahn sagte: „Was wir in Europa mit Sicherheit nicht brauchen, sind neue Grenzzäune oder gar Mauern. Wir benötigen vielmehr ein gerechtes Verteilungssystem von Asylsuchenden innerhalb der EU, an dem sich endlich auch Polen angemessen beteiligen muss. Die unbestreitbaren Probleme mit Belarus, das Flüchtlinge – offenbar als nicht akzeptable Reaktion auf die Sanktionen gegen das Land – in die EU schickt, müssen letztlich auf diplomatischem Wege gelöst werden.“

AfD-Fraktionschefin Alice Weidel sagt: „Polen leistet einen unschätzbar wichtigen Beitrag zur Sicherung der europäischen Außengrenze. Dazu gehört auch die Verhinderung von illegalen Übertritten an der grünen Grenze.“ Wer sich durch illegales Handeln oder gar durch Erstürmung eines Grenzzauns Zutritt zum Territorium eines EU-Staates verschaffe, könne unverzüglich zurückgewiesen werden; so habe auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im vergangenen Jahr geurteilt. „Polen verdient für seinen Einsatz sowohl Anerkennung als auch die volle Unterstützung Deutschlands und der EU“, sagte Weidel WELT.

Stephan Mayer (CSU), Staatssekretär im Innenministerium, sagte im Nachrichtensender WELT, dass „alles dafür getan werden müsse, dass es überhaupt nicht zu diesen Grenzübertritten kommt“. Weil aktuell täglich wohl rund 500 illegale Einreisen nach Polen gelängen „geht das üble Spiel von Lukaschenko schon teilweise auf“, weil sich dann die Debatte entspanne, wer in der EU für die Flüchtlinge zuständig sei. Das Innenministerium sei bereit, deutsche Polizisten in den Einsatz zu bringen – in einer Frontex-Mission an der belarussischen Grenze. Das Angebot müsse aber von der polnischen Regierung angenommen werden.

Die Unionsfraktion hält die bisherigen Maßnahmen der geschäftsführenden Bundesregierung von Union und SPD gegen unerlaubte Einreisen über Belarus noch nicht für ausreichend. In einem Antrag von CDU/CSU, über den an diesem Donnerstag im Bundestag beraten wird, heißt es: Die Regierung solle sich auf europäischer Ebene für Landeverbote und andere Sanktionen gegen solche Fluggesellschaften einsetzen, „die Migranten aufgrund der von Belarus missbräuchlich eingeräumten Visafreiheit befördern“. Außerdem müsse der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Belarus als „russischer Klientelstaat“ Entscheidungen wie die vom Staat orchestrierte Schleusung von Migranten in die EU nicht alleine treffe.

Sollten andere Maßnahmen zur Eindämmung der Migrationsbewegungen aus Belarus nach Deutschland keine Wirkung zeigen oder nicht ausreichen, solle die Bundesregierung Vorkehrungen treffen, damit als letztes Mittel auch zeitlich befristete Grenzkontrollen an der deutsch-polnischen Grenze eingeführt werden könnten, heißt es in dem Antrag.

Von der Leyen belässt es bislang bei Sanktionsdrohungen

Die EU-Kommission hat sich bisher nicht hinter Polens Zurückweisungspolitik gestellt; anders als etwa während des Versuchs der Türkei vor Beginn der Corona-Krise, eine Masseneinwanderung über die griechische Landgrenze auszulösen. Damals wies Athen die Asylsuchenden robust zurück. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) reiste damals ins Grenzgebiet und bezeichnete die Griechen als „Schild Europas“.

In der aktuellen Lage belässt es von der Leyen bisher dabei, zusätzliche Sanktionen gegen Belarus anzukündigen. Das Land müsse mit der „zynischen Instrumentalisierung von Migranten“ aufhören, sagte von der Leyen am Montagabend. „Ich fordere die Mitgliedstaaten auf, die erweiterte Sanktionsregelung gegen die belarussischen Behörden, die für diesen hybriden Angriff verantwortlich sind, zu billigen.“ Die EU arbeite insbesondere daran, Fluggesellschaften von Drittstaaten zu sanktionieren, die am Transport von Migranten nach Belarus beteiligt seien. EU-Kommissionsvize Margaritis Schinas sagte, er werde in den kommenden Tagen in die Herkunfts- und Transitländer der Migranten reisen.

Seit August ist die Zahl der unerlaubten Einreisen an der deutsch-polnischen Grenze sprunghaft angestiegen. Im laufenden Jahr wurden 8800 Migranten, die über Belarus nach Deutschland kamen, von der Bundespolizei festgestellt. Der belarussische Machthaber Lukaschenko hatte Ende Mai als Reaktion auf EU-Sanktionen erklärt, Menschen auf dem Weg in die EU nicht mehr aufzuhalten.

Ein Großteil der Menschen, die über diesen Weg zuletzt nach Deutschland kamen, stammen aus dem Irak, aus Syrien, dem Iran und aus Afghanistan. WELT AM SONNTAG hatte recherchiert, dass laut den Landeplänen des Flughafens Minsk bis März wöchentlich rund 40 Flüge aus Istanbul, Damaskus und Dubai geplant sind. Diese drei Airports werden aktuell am häufigsten von Migranten für Direktflüge nach Belarus genutzt. Das sind mehr als doppelt so viele Flüge wie im Winter 2019/2020. Damals, vor der Corona-Krise, landeten laut den Flugplänen wöchentlich rund 17 Maschinen von diesen und weiteren Flughäfen des Nahen Ostens in Minsk.