Hartmut Wickert | Zurich University of the Arts (original) (raw)

Einleitung:  Peter Handke hat mit seiner subjektiven Sicht auf das Theater und seine Möglichkeit... more Einleitung:  Peter Handke hat mit seiner subjektiven Sicht auf das Theater und seine Möglichkeiten vom Beginn seiner dichterischen Tätigkeit an einen Raum beschrieben, der sich der Aufgabe stellt die Wirklichkeit zu steigern. "In diesem Zeitraum war ständige Gegenwart, ständige Allerwelt, ständige Bewohntheit." 1  Damit setzt sich Handke in Bezug zu den Erneuerern des Theaters und des theatralen Raums, die im 20.Jahrhundert die Bühne zu einem Kunstraum machten (Craig, Appia, Schlemmer, Kantor, Wilson). Die Bühne als Medium zur Transformation der Realität in eine verdichtete, zweite Realität führt zu einer Redefinition der Aufgabenstellung des Spiels, sowie der Spielerinnen und Spieler: Der Raum wird zu einem ausgesprochenen Partner, einer Art Erzählfläche für die Spieler.  Von den Anfängen seiner Theaterarbeit an formuliert Handke den BEGRIFF DER ROLLE um. Von Sprechern ist anfänglich die Rede, dann von Liebhabern.  Statt psychologischer Durchdringung und Begründung von Handlunsgabläufen zwischen Personen geht es um die Kreation einer zweiten gesteigerten Wirklichkeit durch die Figur im poetischen Raum:Die Figur als Teil einer in Bildern wahrgenommenen Welt..  Das Spiel erfordert neue Techniken, diese Wirklichkeit zu schaffen; im hier besprochnen Stück, das über 200 Figuren auftreten und keine davon auch nur ein Wort sprechen lässt, die Fähigkeit, einzelne Momente von Daseinswirklichkeit -ohne das für das Theater immer noch substantielle Mittel der gesprochenen Sprache -zu fokussieren, und statt der Geschichte von einzelnen Figuren, Fragmente der Geschichte vieler, auch unterschiedlicher Figuren zu spielen.  Auktoriales Ziel dabei ist nicht allein die Überforderung des Theaters, sondern der Versuch, aus der Vielfalt von Erscheinungen eine neue, poetische Wirklichkeit entstehen zu lassen. Und das liegt nicht mehr in der Macht des einzelnen Spielers, sondern im Zusammenwirken aller am Spiel Beteiligten, in Konfrontation und kommunizierend mit dem Raum der Bühne. 1 Peter Handke, Epopöe vom Beladen eines Schiffes, Noch einmal für Thukydides, Frankfurt/M. 1. Über einen Satz von Peter Brook und seine Wendung bei Peter Handke Einer der abgegriffensten, meistziertesten, darum aber nicht weniger wahren Sätze der Literatur über Theater stammt von Peter Brook und steht in seinem Buch "Der leere Raum": "Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht. Das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist". 2 Abbildung 1: Es beginnt damit... Ein anderer Satz aus dem gleichen Buch stellt die Behauptung auf: "Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine Bühne nennen". Das Stück oder der Text, über das/ von dem hier die Rede ist, beginnt mit der Anweisung " Die Bühne ist ein freier Platz im hellen Licht". 3 Drei Aussagen, die in Bezug zueinander zu bringen sein können. Immerhin ist der zweite Satz aus Handkes Text, den man als eine einzige Regieanweisung lesen kann, ein deutlicher Verweis auf Brook: " Es beginnt damit, dass einer schnell über ihn (den Platz) wegläuft." 2 Peter Brook, Der leere Raum, Berlin, 2004 3 Peter Handke, Die Stunde da wir nichts voneinander wussten, Frankfurt/M 1992 "Es beginnt" , eine Erweiterung, die allerdings den theatralen Vorgang nun zu einem geradezu biblisch anmutenden Initial macht: nicht das Wort stellt den Beginn dar, sondern die Bewegung der Figur im Raum/durch den Raum. 2.Handlung als Wahrnehmung der Wahrnehmung Die Handlung/die Handlungen, die von nun an geschehen sind gebunden an den Wahrnehmungsakt,. Dieser ist zuerst Privileg des Schreibers, dann des Zuschauers. Der Schreiber beschreibt nicht einfach, was er wahrnimmt, sondern steigert seine Wahrnehmung zur Weltwahrnehmung. Handke verfolgt mit seinem Blick auf die Welt -und hier auf die Menschen in einer wahrnehmbaren Weltpoetologische Interessen. Die Konstruktion seiner Sicht auf die Welt benötigt die Bühne. ""Sich einträumen in die Dinge" war ja lange eine Maxime beim Schreiben gewesen: sich die zu erfassenden Gegenstände derart vorstellen, als ob sie dort erst in ihrem Wesen erscheinen." 4 Abbildung 2: Es beginnt damit... Und warum nun hier der Verzicht auf das Wort? Durch die radikale Reduktion der Handlung auf Bewegungen und Aktionen von einer Vielfalt scheinbar willkürlich zusammengedachter Figuren, den Verzicht auf das Wort ensteht eine Gegenbewegung gegen die Auffassung einer durch die Sprache, das Wort bedingten Welt: 4 Peter Handke, "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische:" 5 Dies sich zeigen zu lassen, wäre ein besonderes Verfahren nötig: die Spielanweisungen Handkes an die Spielerinnen und Spieler läsen sich als eine Art Übung, das Unaussprechliche, den Raum, erscheinen zu lassen: "... Auch sie halten auf dem Platz nicht inne, schwärmen da aus, verlassen ihn, sind schon wieder zurück, jeder für sich, und jeder dabei, in seinem "Sich-Einspielen", in einem fort jäh die Gestalten und Figuren wechselnd, chimärenhaft: vom Sprung aus dem Stand gleich der Übergang, bei im übrigen eher unbewegten Mienen, ins Hakenschlagen, Schuheabklopfen, Armeausbreiten, Sich die Augen Beschirmen, Am Stock gehen, Leisetreten, Hutabnehmen, Sichkämmen, ein Messer Ziehen, Luftboxen, über die Schulter Blicken, Regenschirmauffangen, Schlafwandeln, zu Boden Stürzen, Ausspucken, auf der Linie Balancieren, Stolpern, Tänzeln, unterwegs sich einmal im Kreis drehen, Summen, Aufstöhnen, sich mit der Faust auf den Kopf und ins Gesicht Schlagen, sich die Schuhe Zubinden, eine kurze Spanne auf dem Boden Hinrollen, in die Luft Schreiben, das alles durcheinander, nicht ausgeführt, nur im Ansatz," 6 3. Der Raum des Spiels Der Raum in "Die Stunde da wir nichts voneinander wußten" ist ein leerer Platz, in den sich die Vielfalt der Menschen, die ihn betreten und betreten haben, ihn überqueren und auf ihm verweilen, einschreibt und eingeschriben hat, um so etwas wie ein Menschheitspanorama eines Augenblicks und damit zugleich über alle Zeiten hinaus zu werden Das Theater ist Handke der Ort für Vorgänge, die die Menschen, Zuschauer wie Schauspieler, mit dem Schauspiel des Lebens selbst. Weniger "Interpretieren", mit Bedeutung aufladen, als Sehen und Hören stehen im Zentrum der Aufgabe: die Rollen der Schauspieler werden reduziert auf Auftritte, die schon durch die Tatsache der aufwendigen Vorbereitungen keine psychologische Fundierung ermöglichen.. Auf Gesten, klare Umrisse und Zeichnung, die Betonung der verschiedenen Arten zu gehen z.B. kommt es in einer Situation an, in der das Wort als Mittel zur Erklärung und Bezeichnung nicht existiert. Das enstpricht der Situation des Schauenden auf einem Platz in einem fremden Land zum Beispiel. Der Mangel erzeugt hier aber nun einen Mehrwert, indem aus dem Unerklärten Erklärbares, Deutbares wird. 5 Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, Frankfurt/M 6 Peter Handke, a.a.O. S.8 Abbildung 3: Die Bühne ist ein leerer Platz im hellen Licht Handke macht das unüberschaubare Chaos der Menschenwelt darstellbar: Er findet die Geschichte in der scheinbaren Zusammenhanglosigkeit der Einzelerscheinungen . Die poetische Synthesis wird zum Mittel, das Vielfältig-Fremde außerhalb des Betrachters in ihm zum Zusammenhang zu bringen: die Wahrnehmung wird zum Ort der Verbindung, zum Knotenpunkt, zum Ort, an dem die Vielfalt zur Einheit geordnet wird: und diese Einheit ist die des Erkennens. Handke etabliert so das Theater als einen Ort privilegierter Erkenntnismöglichkeit: Das Sehen wird Thema, indem es mit der Aufforderung verbunden wird, es als einen mit dem Objekt sich verbindenden Akt zu verstehen: "Was du gesehen hast, verrat es nicht/bleib in dem Bild.", heißt das Motto über der "Stunde da wir nichts voneinander wußten". Handke mutet dem Zuschauer einen eminent großen Raum zu, mitzuformulieren, weiterzuphantasieren oder -zu flüchten. Er setzt eine Art teilnahmsloser, interesseloser Beobachtung voraus, um gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit zu ermöglichen: er läßt in all den alltäglichen Figurationen der Menschen, die vor dem Auge des Betrachters erscheinen, ein Defilee, einen Zusammenhang entstehen, der Visionen, Halluzinationen, Projektionen möglich macht, die wiederum die Wirklichkeit in quasi-mystische Dimensionen transferieren. Es soll eine Verbundenheit von Allem mit Allem, von Jedem mit Allem entstehen, eine Art poetisches Gedächtnis/ Erinnerungsvermögen der langen Geschichte der Menschheit . Es entstehen Geschichten, die der Betrachter erfindet, es erscheinen mythologische Figuren, die ihre Wirklichkeit aus dem Eingedenken, dem Assoziationsvermögen des Betrachters erhalten, und schließlich Beziehungen zwischen den Fragmenten. Das Erscheinen und Verschwinden, Kommen und Gehen, Auftreten und Abgehen, das ewige Werden und Vergehen von Gestalten steigert sich zu einer verklärten Gemeinschaft von Gläubigen, die an einem späten Punkt der Handlung die Bühne besetzen, belagern, innehalten und in einen Zustand gemeinschaftlich gläubigen Wartens versinken. Allerlei Töne, Hinweise, Reize, Zeichen (eine "Naturkatastrophe": die "Sintflut"): -"..ein Sturm brach los, hoch über dem Platz, ein Donnern und Knattern, ohne daß sich an denen unten die Haare rühren. Rings um die Szene ging dann ein vielfältiges Klagegeschrei, hier von einem Kind, dort von einem Elefanten, dort von einem Schwein, einem Hund, einem Nashorn, einem Stier, einem Esel, einem Wal, einem Saurier, einer Katze, einem Igel, einer Schildkröte, einem Regenwurm, einem Tiger, dem Leviathan." 7 -fordern schließlich die Rettung, die Erlösung, eine Art Wunder: dieses entdeckt sich als das plötzliche Aufstehen des Wanderers, einer mehr und mehr identifizierbar gewordenen Gestalt, und seiner Anmaßung, dem Zusammensein einen gesteigerten Ausdruck zu verleihen. Er erhebt sich priestergleich und hebt an zu sprechen. Vor dem Form gewordenen Ausdruck, dem Laut aber, dem Beginn dessen, was das ewige Verfehlen der Menschen einleitet, nämlich dem endlosen, unauflöslichen Verfallensein an die Metaphysik der Präsenz, des Sinns und...