Christoph Paret | Universtät Wien (original) (raw)
Papers by Christoph Paret
Lettre International 147 https://www.lettre.de/beitrag/paret-christoph\_inklusion-sezession, 2024
Inklusion ist in den letzten Jahrzehnten zum unangefochtenen Leitwert der Institutionenkritik gew... more Inklusion ist in den letzten Jahrzehnten zum unangefochtenen Leitwert der Institutionenkritik geworden (Stichworte: „Öffnung der Institutionen für diverse Minoritäten“, „Erweiterung des Kanons“ usw.) Das geschah, weil man dachte, der Gegenbegriff zur Inklusion sei Exklusion, und niemand will sich sagen lassen, er wäre für Exklusion. Aber der eigentliche Gegenbegriff zur Inklusion dürfte SEZESSION sein. Es waren gerade Sezessionen, die sich in der Geschichte als kulturell produktiv erwiesen. Sezessionisten müssen nicht inkludiert werden, weil sie es nicht wollen. Ein künstlerischer Sezessionist beklagt sich nicht, daß ihm ein Plätzchen im Museum verwehrt wird, er kritisiert, daß im Museum nichts den Namen Kunst verdient. Er sagt nicht, daß sich im Kunstsystem minoritäre Gruppen schwertun, sondern daß sich im Kunstsystem die Kunst schwertut. Sezessionisten gefallen sich auch nicht in einer Außenseiterposition, sie wissen sich vielmehr im ideellen Zentrum. Solche Sezessionisten sind keine Nischenwesen, sondern Universalisten, die annehmen wollen, daß das Universale noch keine Stätte gefunden hat: Ihr Außenposten soll diese Stätte sein. Inklusion? Sezession! Die vergessene Strategie der Ausgeschlossenen.
Merkur 906, 2024
Was, wenn die Asketen, die bislang historisch aufgetreten sind, asketisch immer bloß aus der Auße... more Was, wenn die Asketen, die bislang historisch aufgetreten sind, asketisch immer bloß aus der Außenperspektive gewesen wären? Was sie selbst anlangte, hätten sie auf nichts Bedeutendes verzichtet. Sie hätten etwas entdeckt oder wären zumindest auf der Suche nach etwas gewesen, was ihnen wichtiger war als Essen, Sex, Bequemlichkeit, Posten: Kafkas Hungerkünstler, der »nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.« Aus dem Blickwinkel dieser Asketen wären die Normalmenschen nicht diejenigen, die gelassen speisen, sondern die sich haben abspeisen lassen. Was so ein Asket ist, lässt nur das Beste gut genug sein, alles andere lässt er sein: Verzicht auf alles, ausgenommen auf das Beste.
FAZ, 2024
Herrigel war in seinem Buch "Zen in der Kunst des Bogenschießens" (1948) kein "Laiensoziologe" Ja... more Herrigel war in seinem Buch "Zen in der Kunst des Bogenschießens" (1948) kein "Laiensoziologe" Japans, und das nicht etwa, weil er eine professionelle Soziologie Japans vorgelegt hätte, sondern weil sein Interesse gar nicht Japan galt. Es ging ihm nicht darum, in einen ominösen "japanischen Volksgeist" einzutauchen, was auch immer das wäre, es ging darum, in Japan eine Antwort auf eine Frage zu finden, die man im Westen nicht mehr erhalten konnte, weil man dort "durch die Kluft von Jahrhunderten von den großen Meistern getrennt" sei: "Wie wird man Mystiker?" Man versteht schon, dass ein Japanologe glauben möchte, es sei das Höchste, die Japaner zu begreifen, aber Herrigel glaubte, das Höchste sei womöglich nur in Japan zu begreifen.
https://hazmanhazeh.org.il/ (Übersetzung v. "Die Gesellschaft des Suspense" ins Hebräische), 2024
במציאות הנוכחית, אפילו גדולי האופטימיסטים אינם שואפים ליותר מאשר למנוע את התממשות האיומים שלפנינו... more במציאות הנוכחית, אפילו גדולי האופטימיסטים אינם שואפים ליותר מאשר למנוע את התממשות האיומים שלפנינו. מבט על עברו של כדור הארץ חושף כי זהו המצב השגרתי שנשמר בו לאורך מיליארדי שנים: ההיסטוריה של כוכב הלכת היא בעיקרה תולדות הקטסטרופות שנמנעו בזכות פעולתם המשותפת של אינספור מיקרו־אורגניזמים. הפוליטיקה של עידן האנתרופוקן צריכה להתגייס לפרויקט של עיכוב האסון
Übersetzung von "Die Gesellschaft des Suspense und der Katechon der Ökologie"
Merkur 903, 2024
Nicht einmal die größten Optimisten scheinen unter den gegenwärtigen Bedingungen weiterreichende ... more Nicht einmal die größten Optimisten scheinen unter den gegenwärtigen Bedingungen weiterreichende Ambitionen zu haben, als abzuwenden, was droht. Wenn noch eine gewisse Aussicht darauf besteht, dass 2024 wider Erwarten ein gutes Jahr wird, dann allenfalls durch das, was in ihm dann doch nicht geschehen wird. Auch Jahrhundertprojekte sollen sich in der Sorge erschöpfen, dass es zu einem CO2-Ausstoß erheblichen Ausmaßes doch nicht kommt, man die Rate der Auslöschung der Arten verlangsamt, den Energieverbrauch pro Kopf reduziert.Wie kommt es, dass keine anderen Geschehnisse vorstellbar sind als drohende? Warum gibt es kein größeres Vorhaben als deren Verhinderung oder auch nur Vertagung?
Andreas Großmann (Hg.), Zur Zukunft der Bildung, 2024
Schüler, die das Falsche lernen und, schlimmer noch: Schüler, die falsch lernen, und erst noch ‚K... more Schüler, die das Falsche lernen und, schlimmer noch: Schüler, die falsch lernen, und erst noch ‚Kompetenzen' erwerben müssen, die erst noch lernen müssen, wie man lernt; Lehrer, die Veraltetes lehren und die, schlimmer noch, auf veraltete Weise lehren und die erst noch nach den neuesten, wissenschaftlich geprüften und ‚reflektierten' Methoden darin unterrichtet werden müssen, wie sie ihrerseits unterrichten müssen: Das ist die permanente Unruhe der Didaktik. Wenn nicht: Ihr permanenter Terror. Ja, es mag kritikwürdig sein, was momentan so unter ‚Didaktik' läuft und schiefläuft, und doch ist die Kritik an der Didaktik in diese Didaktik selbst auf unheilvolle Weise immer schon miteingebaut. Es gibt anscheinend keine andere als eine alarmierte Art und Weise, die jeweils vorherrschende Didaktik zu kritisieren, wobei auch jene Didaktik, die jetzt und jederzeit offenbar dringend abgeschüttelt werden muss, damals selbst erst im Modus des Alarms eine vorherrschende Didaktik werden konnte. Der Alarm ist, wie es aussieht, der Normalbetrieb eines Faches und einer Praxis, bei der Gelassenheit anscheinend mit Beharrung erkauft ist und bei der offenbar nur der Warnruf Reformen in Gang setzen kann: Bildungskatastrophe forever! Was anscheinend nicht zur Auswahl steht, das ist eine ebenso kritische wie unbesorgte Didaktik. Was als Möglichkeit ständig vom Horizont gewischt wird, das ist eine Didaktik, die in fröhlicher Unbekümmertheit zu gängigen Didaktik-Vorstellungen und-Praktiken auf Distanz zu gehen vermag. Und auf eine derartige Didaktik in ihrer ganzen Gelassenheit käme es womöglich gerade didaktisch an. Denn der alarmierte Blick, der auf Schüler-wie Lehrerseite nur Borniertheit, blinde Gewohnheit oder mangelnde Fertigkeiten zu sehen vermag, wo doch eigentlich gelernt und gelehrt werden müsste, zeugt von einem Besserwissertum, und man muss sich fragen, ob Besserwisser wirklich die besseren Lehrer sind. Es kennzeichnet den Besserwisser, sein Pensum immer schon absolviert zu haben. Jetzt geht es vermeintlich nur noch darum, ‚weiterzugeben', zu ‚vermitteln', zu ‚didaktisieren', und sei es, die eigene Didaktik zu didaktisieren. Doch was, wenn das Maßgebliche, das man auf diese Weise vermittelt, nur die eigene intellektuelle Müdigkeit wäre? Wie könnte man ernsthaft glauben, jemandem etwas
Lettre International 145, 2024
Christoph Paret widmet sich einem verminten Terrain: Er beobachtet, daß Künstler bei den jüngsten... more Christoph Paret widmet sich einem verminten Terrain: Er beobachtet, daß Künstler bei den jüngsten Kunstskandalen nicht selten eine merkwürdige Figur abgeben. Sie haben diese Skandale nicht provozieren wollen, jubilieren dabei nicht, verbuchen sie auch nicht als ihren Erfolg. Sie fühlen sich mißverstanden, empfinden sich als Opfer von Rassismus oder Political Correctness und sind beleidigt. Auch das Publikum ist ein anderes. Niemand fragt mehr indigniert: „Ist das noch Kunst?“, aber man fragt: „Ist das schon Antisemitismus?“ Nun gibt es auf diese Kunstskandale zwei vorherrschende Reaktionsfiguren. Die eine macht daraus reine Organisationsskandale und empfiehlt, die Kunst mittels Managementmethoden an die Kandare zu nehmen; die andere plädiert für Kunstfreiheit. Beide Reaktionsweisen empfindet der Autor als problematisch. Bei der ersten Reaktion leidet die Kunstfreiheit. Und sich auf die Eigengesetzlichkeit der Kunst zu berufen, die nicht holzschnittartig politisiert werden dürfe, bringt wenig, wenn die Kunst selbst politisch daherkommt. Der Ausweg? Ein Text, der 2025 hundert Jahre alt wird, lichtet die Gedanken: Ortega y Gassets Vertreibung des Menschen aus der Kunst zeigt, daß die Avantgarden nicht deshalb skandalisierten, weil sie bürgerliche Normen durchkreuzten, sondern weil sie sich einzig und allein an ästhetische Normen hielten. Sie waren strenger mit der Kunst als jede bürgerliche Repressalie streng sein könnte ... Jäh ausgepfiffen
Theo Hug, Andreas Beinsteiner, Ann-Kathrin Dittrich (Hgg.) Wissensdiversität und formatierte Bildungsräume. Innsbruck University Press, 2024
Es genügt nicht zu bemängeln, dass der Wissenschaftsbetrieb systematisch Neues blockiert und die ... more Es genügt nicht zu bemängeln, dass der Wissenschaftsbetrieb systematisch Neues blockiert und die Derridas, Foucaults und Bourdieus unserer Tage von den Universitäten vertreibt. Diese Vertreter von theory waren weniger ‚originell', ‚kreativ' und ‚neu', als dass sie diese üblichen Leitwerte wissenschaftlicher Exzellenz hinterfragten. Mit Bezug auf Groys' Theorie der Avantgarden argumentiere ich dafür, dass ihr herausstechendes Merkmal darin bestand, sich nicht damit zufriedenzugeben, eine ‚besondere' Position auf einem wissenschaftlichen Feld zu besetzen, sondern gleichsam dieses Feld selbst zu artikulieren und jene dauerhafte Plattform zu erarbeiten, auf der Positionierungen überhaupt möglich sind. Damit besetzten diese Denker mittels öffentlich einsehbarer Publikationen jenes Feld des Immergleichen und des Infrastrukturellen, das der gegenwärtige Wissenschaftsbetrieb in Form von Ausschreibungen, Begutachtungen, Evaluationen, Zitationsrankings und Rechenschaftsberichten allein für sich reklamiert und der Rechenschaft entzieht. Ambitionierte Theorie hängt davon ab, ob es gelingt, dem Betrieb auf seinem eigenen Feld, dem der Plattförmigkeit, entgegenzutreten.
FAZ, 24.01., Nr. 20, S.3, 2024
Adolf Loos: Ins Leere gesprochen und andere ausgewählte Schriften. Mit einem Vorwort von Christoph Paret, 2023
FAZ, 2023
Wie es aussieht, verabschiedet sich eine ganze Fachrichtung von der Annahme, die zweite Hälfte de... more Wie es aussieht, verabschiedet sich eine ganze Fachrichtung von der Annahme, die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts habe die Verheerungen der ersten beendet und eine bessere Zeit eingeläutet (Demokratisierung, Liberalisierung, Dekolonisierung, Wohlstandsgewinne). Nicht vor, nach 1945 hätten sich katastrophale Exzesse vollzogen, die es nötig machten, nicht nur menschheitsgeschichtliche, sondern sogar erdgeschichtliche Zeitdimensionen in Anschlag zu bringen. All dies kondensiert im Stichwort „Große Beschleunigung“.
Lettre International 138, 2022
Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft Band 67 Heft 2, 2022
Oscar Wilde reagiert auf die missliche Lage der Kunst angesichts eines zunehmend blasierten Publi... more Oscar Wilde reagiert auf die missliche Lage der Kunst angesichts eines zunehmend blasierten Publikums. Er vertauscht die Rollen und setzt seine Kunst als Rezeption derer an, die ehemals die Rezipienten waren-gemäß dem Topos vom ›sehenden Kunstwerk‹ (Früchtl). Wilde zu rezipieren heißt allererst sich rezipiert zu wissen. Wilde blickt kälter zurück als er oder seine Kunst angeblickt werden könnten. Als angeblicktes wird das Publikum unversehens selbst in die Position des Kunstwerks versetzt. Es sieht sich mit ästhetischen Erwartungen konfrontiert, denen es aus systematischen Gründen nicht gerecht werden kann. Die Existenz zu ästhetisieren heißt sie zu desavouieren. Wilde erzieht auf diese Weise nicht sein Publikum, er erzieht hin zum Publikum. Dem Publikum soll nichts Besseres passieren können als Publikum zu bleiben. Der kalte Blick ist ihm als Amoralismus ausgelegt worden. Doch Wilde taugt nicht als Beispiel dafür, dass selbst moralisch Verwerfliches ästhetisch legitim sein kann. Er führt stattdessen vor Augen, dass das Ästhetische weitaus weniger erlaubt als das Ethische. Unethisches verbietet sich schon -und nur- ästhetisch.
FAZ, 24.08., 2022
er Missstände an den hiesigen Universitäten zur sprache bringt, muss nicht kulturpessimistisch ge... more er Missstände an den hiesigen Universitäten zur sprache bringt, muss nicht kulturpessimistisch gestimmt sein. Manche kritisieren die Universitätsleitungen, andere die Hochschullehrer, den Mittelbau oder die studentenschaft. Dieser Beitrag lenkt den prüfenden Blick nur auf die Dissertationen, ungeachtet der unterschiedlichen Promotionskulturen in den Fächern. Laut "statistik der Promovierenden" des statistischen Bundesamtes standen 2020 192 300 Personen in einem Promotionsverfahren. Die Zahl der abgeschlossenen Promotionen ist im vereinigten Deutschland nahezu kontinuierlich gestiegen, von 21 032 (1993) auf 29 303 (2016). Bis 2020, dem ersten Jahr der Corona-Pandemie, sank sie auf 26 220. Etwa jede vierte geht auf das Fach Medizin zurück, in dem der zur Promotion nötige Arbeitsaufwand als überschaubar gilt. Die Promotionsquote liegt pro Professor und pro Jahr etwa bei 1,0. Hinter dieser Zahl verbirgt sich eine große spreizung. Zwei-problematische-trends fallen auf: Zum einen folgen die geistes-und sozialwissenschaftlichen Fächer mittlerweile mit kumulativen Promotionen dem Vorbild der Naturwissenschaften. Es gibt Universitäten, an denen der Betreuer bei jedem der mindestens drei eingereichten texte Mitverfasser sein darf, wobei dem Doktoranden für zwei Aufsätze mit Peer-Review-Verfahren die federführende Autorschaft gebührt. Die Zahl der Ko-Autoren ist nicht begrenzt. Fungiert der Betreuer als solcher, kommt ein weiterer Gutachter ins spiel. Nunmehr folgt vieler-Noteninflation und sinkender Qualitätsanspruch: Wie lässt sich dem Leistungsabfall bei Doktorarbeiten entgegenwirken?
Lettre International 136, 2022
Loos und Duchamp sind die beiden großen Arbeitsverweigerer im ästhetischen Raum. Duchamp führte m... more Loos und Duchamp sind die beiden großen Arbeitsverweigerer im ästhetischen Raum. Duchamp führte mit seinen Ready-Mades exemplarisch vor, dass ein beliebiges Objekt zum Kunstwerk erklärt werden kann, ohne zuvor irgendeiner ästhetischen Veränderung unterzogen zu werden. Und Loos plädierte dafür, die Arbeit an dem einzustellen, was er Ornament nannte, nämlich an allen Arten der „Verschönerung“. Loos war es allerdings darum zu tun im Alltagsleben den großen ästhetischen Streik anbrechen lassen, Duchamps streikte ästhetisch in den Stätten der Kunst selbst. Loos bekämpfte die Expansion der Kunst in den Alltag, Duchamp sorgte für die Expansion des profanen Industriellen in die Kunst. Loos wollte das Handwerk von der Kunst befreien, Duchamp die Kunst von allem Handwerklichen.
Merkur 874, März, 2022
»Katharsis«, »Sublimation«, »Hypnotisierung durchs Spektakel« – erinnert sich eigentlich noch jem... more »Katharsis«, »Sublimation«, »Hypnotisierung durchs Spektakel« – erinnert sich eigentlich noch jemand daran, dass dem Ästhetischen einmal mit großer Selbstverständlichkeit eine Entlastungs- und Entspannungsfunktion zugesprochen wurde? Manche haben das als Passivität verdammt, andere als Kontemplation geschätzt. Vorbei. Wann hat es angefangen, dass man sich ästhetisch überhaupt nur anstrengen kann? Da gilt es, »ästhetische Erfahrungen« zu machen, da gibt es unzählige Kunstwerke, an denen man »partizipieren« oder durch die man »aktiviert« werden soll. Kunstaktivisten finden sich reihenweise, wo hätte man jemals einen Kunstpassivisten gesehen?
Überlegungen anhand von Reckwitz, Groys, Rancière, Foucault, Wilde, Loos.
FAZ, 23. Februar, Nr. 45, Geisteswissenschaften, S. 3, 2022
Und plötzlich sind die Klassiker von gestern die Kuriositäten unserer Tage. Zumindest gilt das fü... more Und plötzlich sind die Klassiker von gestern die Kuriositäten unserer Tage. Zumindest gilt das für den Denker der Selbstverschwendung, für Georges Bataille (1897 bis 1962). Wer erinnert sich noch daran, dass Bataille einmal den unabdingbaren Referenzpunkt für Autoren wie Michel Foucault, Jacques Derrida oder Jean Baudrillard bildete? Vorbei. Mittlerweile mag man sich fragen, was man anfangen soll mit jemandem, der Ende des Zweiten Weltkriegs ernstlich schrieb: "Angesichts dessen, dass Ihr über alle Ressourcen der Erde verfügt, solltet ihr sie aktiv verausgaben, aus keinem anderen Grund als dem Verlangen, das ihr danach habt", nicht ohne hinzuzufügen: "Diese Sprache ist eindeutig die einzig seriöse." Sätze wie Fremdkörper in einer Gegenwart, die ganz im Zeichen der Nachhaltigkeit steht. Man könnte sie ein wenig leichter abtun, wenn man in ihrem Verfasser wirklich bloß die
Sinn und Form 01/22, 2022
Lettre International 147 https://www.lettre.de/beitrag/paret-christoph\_inklusion-sezession, 2024
Inklusion ist in den letzten Jahrzehnten zum unangefochtenen Leitwert der Institutionenkritik gew... more Inklusion ist in den letzten Jahrzehnten zum unangefochtenen Leitwert der Institutionenkritik geworden (Stichworte: „Öffnung der Institutionen für diverse Minoritäten“, „Erweiterung des Kanons“ usw.) Das geschah, weil man dachte, der Gegenbegriff zur Inklusion sei Exklusion, und niemand will sich sagen lassen, er wäre für Exklusion. Aber der eigentliche Gegenbegriff zur Inklusion dürfte SEZESSION sein. Es waren gerade Sezessionen, die sich in der Geschichte als kulturell produktiv erwiesen. Sezessionisten müssen nicht inkludiert werden, weil sie es nicht wollen. Ein künstlerischer Sezessionist beklagt sich nicht, daß ihm ein Plätzchen im Museum verwehrt wird, er kritisiert, daß im Museum nichts den Namen Kunst verdient. Er sagt nicht, daß sich im Kunstsystem minoritäre Gruppen schwertun, sondern daß sich im Kunstsystem die Kunst schwertut. Sezessionisten gefallen sich auch nicht in einer Außenseiterposition, sie wissen sich vielmehr im ideellen Zentrum. Solche Sezessionisten sind keine Nischenwesen, sondern Universalisten, die annehmen wollen, daß das Universale noch keine Stätte gefunden hat: Ihr Außenposten soll diese Stätte sein. Inklusion? Sezession! Die vergessene Strategie der Ausgeschlossenen.
Merkur 906, 2024
Was, wenn die Asketen, die bislang historisch aufgetreten sind, asketisch immer bloß aus der Auße... more Was, wenn die Asketen, die bislang historisch aufgetreten sind, asketisch immer bloß aus der Außenperspektive gewesen wären? Was sie selbst anlangte, hätten sie auf nichts Bedeutendes verzichtet. Sie hätten etwas entdeckt oder wären zumindest auf der Suche nach etwas gewesen, was ihnen wichtiger war als Essen, Sex, Bequemlichkeit, Posten: Kafkas Hungerkünstler, der »nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.« Aus dem Blickwinkel dieser Asketen wären die Normalmenschen nicht diejenigen, die gelassen speisen, sondern die sich haben abspeisen lassen. Was so ein Asket ist, lässt nur das Beste gut genug sein, alles andere lässt er sein: Verzicht auf alles, ausgenommen auf das Beste.
FAZ, 2024
Herrigel war in seinem Buch "Zen in der Kunst des Bogenschießens" (1948) kein "Laiensoziologe" Ja... more Herrigel war in seinem Buch "Zen in der Kunst des Bogenschießens" (1948) kein "Laiensoziologe" Japans, und das nicht etwa, weil er eine professionelle Soziologie Japans vorgelegt hätte, sondern weil sein Interesse gar nicht Japan galt. Es ging ihm nicht darum, in einen ominösen "japanischen Volksgeist" einzutauchen, was auch immer das wäre, es ging darum, in Japan eine Antwort auf eine Frage zu finden, die man im Westen nicht mehr erhalten konnte, weil man dort "durch die Kluft von Jahrhunderten von den großen Meistern getrennt" sei: "Wie wird man Mystiker?" Man versteht schon, dass ein Japanologe glauben möchte, es sei das Höchste, die Japaner zu begreifen, aber Herrigel glaubte, das Höchste sei womöglich nur in Japan zu begreifen.
https://hazmanhazeh.org.il/ (Übersetzung v. "Die Gesellschaft des Suspense" ins Hebräische), 2024
במציאות הנוכחית, אפילו גדולי האופטימיסטים אינם שואפים ליותר מאשר למנוע את התממשות האיומים שלפנינו... more במציאות הנוכחית, אפילו גדולי האופטימיסטים אינם שואפים ליותר מאשר למנוע את התממשות האיומים שלפנינו. מבט על עברו של כדור הארץ חושף כי זהו המצב השגרתי שנשמר בו לאורך מיליארדי שנים: ההיסטוריה של כוכב הלכת היא בעיקרה תולדות הקטסטרופות שנמנעו בזכות פעולתם המשותפת של אינספור מיקרו־אורגניזמים. הפוליטיקה של עידן האנתרופוקן צריכה להתגייס לפרויקט של עיכוב האסון
Übersetzung von "Die Gesellschaft des Suspense und der Katechon der Ökologie"
Merkur 903, 2024
Nicht einmal die größten Optimisten scheinen unter den gegenwärtigen Bedingungen weiterreichende ... more Nicht einmal die größten Optimisten scheinen unter den gegenwärtigen Bedingungen weiterreichende Ambitionen zu haben, als abzuwenden, was droht. Wenn noch eine gewisse Aussicht darauf besteht, dass 2024 wider Erwarten ein gutes Jahr wird, dann allenfalls durch das, was in ihm dann doch nicht geschehen wird. Auch Jahrhundertprojekte sollen sich in der Sorge erschöpfen, dass es zu einem CO2-Ausstoß erheblichen Ausmaßes doch nicht kommt, man die Rate der Auslöschung der Arten verlangsamt, den Energieverbrauch pro Kopf reduziert.Wie kommt es, dass keine anderen Geschehnisse vorstellbar sind als drohende? Warum gibt es kein größeres Vorhaben als deren Verhinderung oder auch nur Vertagung?
Andreas Großmann (Hg.), Zur Zukunft der Bildung, 2024
Schüler, die das Falsche lernen und, schlimmer noch: Schüler, die falsch lernen, und erst noch ‚K... more Schüler, die das Falsche lernen und, schlimmer noch: Schüler, die falsch lernen, und erst noch ‚Kompetenzen' erwerben müssen, die erst noch lernen müssen, wie man lernt; Lehrer, die Veraltetes lehren und die, schlimmer noch, auf veraltete Weise lehren und die erst noch nach den neuesten, wissenschaftlich geprüften und ‚reflektierten' Methoden darin unterrichtet werden müssen, wie sie ihrerseits unterrichten müssen: Das ist die permanente Unruhe der Didaktik. Wenn nicht: Ihr permanenter Terror. Ja, es mag kritikwürdig sein, was momentan so unter ‚Didaktik' läuft und schiefläuft, und doch ist die Kritik an der Didaktik in diese Didaktik selbst auf unheilvolle Weise immer schon miteingebaut. Es gibt anscheinend keine andere als eine alarmierte Art und Weise, die jeweils vorherrschende Didaktik zu kritisieren, wobei auch jene Didaktik, die jetzt und jederzeit offenbar dringend abgeschüttelt werden muss, damals selbst erst im Modus des Alarms eine vorherrschende Didaktik werden konnte. Der Alarm ist, wie es aussieht, der Normalbetrieb eines Faches und einer Praxis, bei der Gelassenheit anscheinend mit Beharrung erkauft ist und bei der offenbar nur der Warnruf Reformen in Gang setzen kann: Bildungskatastrophe forever! Was anscheinend nicht zur Auswahl steht, das ist eine ebenso kritische wie unbesorgte Didaktik. Was als Möglichkeit ständig vom Horizont gewischt wird, das ist eine Didaktik, die in fröhlicher Unbekümmertheit zu gängigen Didaktik-Vorstellungen und-Praktiken auf Distanz zu gehen vermag. Und auf eine derartige Didaktik in ihrer ganzen Gelassenheit käme es womöglich gerade didaktisch an. Denn der alarmierte Blick, der auf Schüler-wie Lehrerseite nur Borniertheit, blinde Gewohnheit oder mangelnde Fertigkeiten zu sehen vermag, wo doch eigentlich gelernt und gelehrt werden müsste, zeugt von einem Besserwissertum, und man muss sich fragen, ob Besserwisser wirklich die besseren Lehrer sind. Es kennzeichnet den Besserwisser, sein Pensum immer schon absolviert zu haben. Jetzt geht es vermeintlich nur noch darum, ‚weiterzugeben', zu ‚vermitteln', zu ‚didaktisieren', und sei es, die eigene Didaktik zu didaktisieren. Doch was, wenn das Maßgebliche, das man auf diese Weise vermittelt, nur die eigene intellektuelle Müdigkeit wäre? Wie könnte man ernsthaft glauben, jemandem etwas
Lettre International 145, 2024
Christoph Paret widmet sich einem verminten Terrain: Er beobachtet, daß Künstler bei den jüngsten... more Christoph Paret widmet sich einem verminten Terrain: Er beobachtet, daß Künstler bei den jüngsten Kunstskandalen nicht selten eine merkwürdige Figur abgeben. Sie haben diese Skandale nicht provozieren wollen, jubilieren dabei nicht, verbuchen sie auch nicht als ihren Erfolg. Sie fühlen sich mißverstanden, empfinden sich als Opfer von Rassismus oder Political Correctness und sind beleidigt. Auch das Publikum ist ein anderes. Niemand fragt mehr indigniert: „Ist das noch Kunst?“, aber man fragt: „Ist das schon Antisemitismus?“ Nun gibt es auf diese Kunstskandale zwei vorherrschende Reaktionsfiguren. Die eine macht daraus reine Organisationsskandale und empfiehlt, die Kunst mittels Managementmethoden an die Kandare zu nehmen; die andere plädiert für Kunstfreiheit. Beide Reaktionsweisen empfindet der Autor als problematisch. Bei der ersten Reaktion leidet die Kunstfreiheit. Und sich auf die Eigengesetzlichkeit der Kunst zu berufen, die nicht holzschnittartig politisiert werden dürfe, bringt wenig, wenn die Kunst selbst politisch daherkommt. Der Ausweg? Ein Text, der 2025 hundert Jahre alt wird, lichtet die Gedanken: Ortega y Gassets Vertreibung des Menschen aus der Kunst zeigt, daß die Avantgarden nicht deshalb skandalisierten, weil sie bürgerliche Normen durchkreuzten, sondern weil sie sich einzig und allein an ästhetische Normen hielten. Sie waren strenger mit der Kunst als jede bürgerliche Repressalie streng sein könnte ... Jäh ausgepfiffen
Theo Hug, Andreas Beinsteiner, Ann-Kathrin Dittrich (Hgg.) Wissensdiversität und formatierte Bildungsräume. Innsbruck University Press, 2024
Es genügt nicht zu bemängeln, dass der Wissenschaftsbetrieb systematisch Neues blockiert und die ... more Es genügt nicht zu bemängeln, dass der Wissenschaftsbetrieb systematisch Neues blockiert und die Derridas, Foucaults und Bourdieus unserer Tage von den Universitäten vertreibt. Diese Vertreter von theory waren weniger ‚originell', ‚kreativ' und ‚neu', als dass sie diese üblichen Leitwerte wissenschaftlicher Exzellenz hinterfragten. Mit Bezug auf Groys' Theorie der Avantgarden argumentiere ich dafür, dass ihr herausstechendes Merkmal darin bestand, sich nicht damit zufriedenzugeben, eine ‚besondere' Position auf einem wissenschaftlichen Feld zu besetzen, sondern gleichsam dieses Feld selbst zu artikulieren und jene dauerhafte Plattform zu erarbeiten, auf der Positionierungen überhaupt möglich sind. Damit besetzten diese Denker mittels öffentlich einsehbarer Publikationen jenes Feld des Immergleichen und des Infrastrukturellen, das der gegenwärtige Wissenschaftsbetrieb in Form von Ausschreibungen, Begutachtungen, Evaluationen, Zitationsrankings und Rechenschaftsberichten allein für sich reklamiert und der Rechenschaft entzieht. Ambitionierte Theorie hängt davon ab, ob es gelingt, dem Betrieb auf seinem eigenen Feld, dem der Plattförmigkeit, entgegenzutreten.
FAZ, 24.01., Nr. 20, S.3, 2024
Adolf Loos: Ins Leere gesprochen und andere ausgewählte Schriften. Mit einem Vorwort von Christoph Paret, 2023
FAZ, 2023
Wie es aussieht, verabschiedet sich eine ganze Fachrichtung von der Annahme, die zweite Hälfte de... more Wie es aussieht, verabschiedet sich eine ganze Fachrichtung von der Annahme, die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts habe die Verheerungen der ersten beendet und eine bessere Zeit eingeläutet (Demokratisierung, Liberalisierung, Dekolonisierung, Wohlstandsgewinne). Nicht vor, nach 1945 hätten sich katastrophale Exzesse vollzogen, die es nötig machten, nicht nur menschheitsgeschichtliche, sondern sogar erdgeschichtliche Zeitdimensionen in Anschlag zu bringen. All dies kondensiert im Stichwort „Große Beschleunigung“.
Lettre International 138, 2022
Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft Band 67 Heft 2, 2022
Oscar Wilde reagiert auf die missliche Lage der Kunst angesichts eines zunehmend blasierten Publi... more Oscar Wilde reagiert auf die missliche Lage der Kunst angesichts eines zunehmend blasierten Publikums. Er vertauscht die Rollen und setzt seine Kunst als Rezeption derer an, die ehemals die Rezipienten waren-gemäß dem Topos vom ›sehenden Kunstwerk‹ (Früchtl). Wilde zu rezipieren heißt allererst sich rezipiert zu wissen. Wilde blickt kälter zurück als er oder seine Kunst angeblickt werden könnten. Als angeblicktes wird das Publikum unversehens selbst in die Position des Kunstwerks versetzt. Es sieht sich mit ästhetischen Erwartungen konfrontiert, denen es aus systematischen Gründen nicht gerecht werden kann. Die Existenz zu ästhetisieren heißt sie zu desavouieren. Wilde erzieht auf diese Weise nicht sein Publikum, er erzieht hin zum Publikum. Dem Publikum soll nichts Besseres passieren können als Publikum zu bleiben. Der kalte Blick ist ihm als Amoralismus ausgelegt worden. Doch Wilde taugt nicht als Beispiel dafür, dass selbst moralisch Verwerfliches ästhetisch legitim sein kann. Er führt stattdessen vor Augen, dass das Ästhetische weitaus weniger erlaubt als das Ethische. Unethisches verbietet sich schon -und nur- ästhetisch.
FAZ, 24.08., 2022
er Missstände an den hiesigen Universitäten zur sprache bringt, muss nicht kulturpessimistisch ge... more er Missstände an den hiesigen Universitäten zur sprache bringt, muss nicht kulturpessimistisch gestimmt sein. Manche kritisieren die Universitätsleitungen, andere die Hochschullehrer, den Mittelbau oder die studentenschaft. Dieser Beitrag lenkt den prüfenden Blick nur auf die Dissertationen, ungeachtet der unterschiedlichen Promotionskulturen in den Fächern. Laut "statistik der Promovierenden" des statistischen Bundesamtes standen 2020 192 300 Personen in einem Promotionsverfahren. Die Zahl der abgeschlossenen Promotionen ist im vereinigten Deutschland nahezu kontinuierlich gestiegen, von 21 032 (1993) auf 29 303 (2016). Bis 2020, dem ersten Jahr der Corona-Pandemie, sank sie auf 26 220. Etwa jede vierte geht auf das Fach Medizin zurück, in dem der zur Promotion nötige Arbeitsaufwand als überschaubar gilt. Die Promotionsquote liegt pro Professor und pro Jahr etwa bei 1,0. Hinter dieser Zahl verbirgt sich eine große spreizung. Zwei-problematische-trends fallen auf: Zum einen folgen die geistes-und sozialwissenschaftlichen Fächer mittlerweile mit kumulativen Promotionen dem Vorbild der Naturwissenschaften. Es gibt Universitäten, an denen der Betreuer bei jedem der mindestens drei eingereichten texte Mitverfasser sein darf, wobei dem Doktoranden für zwei Aufsätze mit Peer-Review-Verfahren die federführende Autorschaft gebührt. Die Zahl der Ko-Autoren ist nicht begrenzt. Fungiert der Betreuer als solcher, kommt ein weiterer Gutachter ins spiel. Nunmehr folgt vieler-Noteninflation und sinkender Qualitätsanspruch: Wie lässt sich dem Leistungsabfall bei Doktorarbeiten entgegenwirken?
Lettre International 136, 2022
Loos und Duchamp sind die beiden großen Arbeitsverweigerer im ästhetischen Raum. Duchamp führte m... more Loos und Duchamp sind die beiden großen Arbeitsverweigerer im ästhetischen Raum. Duchamp führte mit seinen Ready-Mades exemplarisch vor, dass ein beliebiges Objekt zum Kunstwerk erklärt werden kann, ohne zuvor irgendeiner ästhetischen Veränderung unterzogen zu werden. Und Loos plädierte dafür, die Arbeit an dem einzustellen, was er Ornament nannte, nämlich an allen Arten der „Verschönerung“. Loos war es allerdings darum zu tun im Alltagsleben den großen ästhetischen Streik anbrechen lassen, Duchamps streikte ästhetisch in den Stätten der Kunst selbst. Loos bekämpfte die Expansion der Kunst in den Alltag, Duchamp sorgte für die Expansion des profanen Industriellen in die Kunst. Loos wollte das Handwerk von der Kunst befreien, Duchamp die Kunst von allem Handwerklichen.
Merkur 874, März, 2022
»Katharsis«, »Sublimation«, »Hypnotisierung durchs Spektakel« – erinnert sich eigentlich noch jem... more »Katharsis«, »Sublimation«, »Hypnotisierung durchs Spektakel« – erinnert sich eigentlich noch jemand daran, dass dem Ästhetischen einmal mit großer Selbstverständlichkeit eine Entlastungs- und Entspannungsfunktion zugesprochen wurde? Manche haben das als Passivität verdammt, andere als Kontemplation geschätzt. Vorbei. Wann hat es angefangen, dass man sich ästhetisch überhaupt nur anstrengen kann? Da gilt es, »ästhetische Erfahrungen« zu machen, da gibt es unzählige Kunstwerke, an denen man »partizipieren« oder durch die man »aktiviert« werden soll. Kunstaktivisten finden sich reihenweise, wo hätte man jemals einen Kunstpassivisten gesehen?
Überlegungen anhand von Reckwitz, Groys, Rancière, Foucault, Wilde, Loos.
FAZ, 23. Februar, Nr. 45, Geisteswissenschaften, S. 3, 2022
Und plötzlich sind die Klassiker von gestern die Kuriositäten unserer Tage. Zumindest gilt das fü... more Und plötzlich sind die Klassiker von gestern die Kuriositäten unserer Tage. Zumindest gilt das für den Denker der Selbstverschwendung, für Georges Bataille (1897 bis 1962). Wer erinnert sich noch daran, dass Bataille einmal den unabdingbaren Referenzpunkt für Autoren wie Michel Foucault, Jacques Derrida oder Jean Baudrillard bildete? Vorbei. Mittlerweile mag man sich fragen, was man anfangen soll mit jemandem, der Ende des Zweiten Weltkriegs ernstlich schrieb: "Angesichts dessen, dass Ihr über alle Ressourcen der Erde verfügt, solltet ihr sie aktiv verausgaben, aus keinem anderen Grund als dem Verlangen, das ihr danach habt", nicht ohne hinzuzufügen: "Diese Sprache ist eindeutig die einzig seriöse." Sätze wie Fremdkörper in einer Gegenwart, die ganz im Zeichen der Nachhaltigkeit steht. Man könnte sie ein wenig leichter abtun, wenn man in ihrem Verfasser wirklich bloß die
Sinn und Form 01/22, 2022
Passagen Verlag, 2023
Das männliche Geschlecht habe seinen Biss verloren, hört man mitunter von eher verdächtiger Seite... more Das männliche Geschlecht habe seinen Biss verloren, hört man mitunter von eher verdächtiger Seite. Das möge Toni Erdmanns überdimensioniertes Faschingsgebiss verhindern. Erdmann ist der heimliche Heros von Alain Badious neuer Geschlechterdifferenz, insofern er bezeugt, dass Männer wieder Zähne zeigen sollen, solange es nur falsche sind.
Könnte es sein, dass persönliche Freiheit überhaupt nur in besonders gestalteten Settings gedeih... more Könnte es sein, dass persönliche Freiheit überhaupt nur in
besonders gestalteten Settings gedeihen kann? Gibt es freiheitsfördernde
Laboratorien, in denen es weniger darum geht, Erkenntnisse zu generieren,
als vielmehr die Versuchspersonen zu emanzipieren?
Eine Reihe von Unternehmungen des 20. Jahrhunderts zielte darauf ab,
Menschen zu emanzipieren, indem man sie in eigens arrangierte Kontexte
versetzte. Zu diesen emanzipativen Infrastrukturen zählen das berüchtigte
Milgram-Experiment und John Lillys Isolationstank, die Freud’sche Psychoanalyse
genauso wie das soziologische Interview gemäß den Vorstellungen
von Pierre Bourdieu, Thomas Gordons pädagogische Redetechnik des »aktiven
Zuhörens« im selben Maße wie Keith Johnstones Improvisationstheater
oder aber die trickreichen Versuche Milton Ericksons, seine Patienten
aufzurühren.
Philosophiemagazin, 2024
"Um zu diesem Buch einen Zugang zu gewinnen, bietet sich ein Begriff an, der in ihm gar nicht vor... more "Um zu diesem Buch einen Zugang zu gewinnen, bietet sich ein Begriff an, der in ihm gar nicht vorkommt, ein schillernder, geschichtsbeladener, ein gefährlicher Begriff, Sezession."
Merkur 901, 2024
Rezension von "Der Diskurs der Philosophie"
NZZ, 2017
Was hilft es, sich über jemanden zu ereifern, der sein illegitimes Tun eher markiert als maskiert?