Identitärer Terror – Franz L. Neumanns Kritik am völkischen Demokratiebegriff (original) (raw)

Auf der gemeinsamen Suche nach einer „modernen Demokratietheorie“: Otto Suhr, Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel.

Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, 1991

3. Nun zeigt sich gerade im Falle Berlins, in welchem Maße dem Faktor "Persönlichkeil" eine erhebliche Bedeutung zukommt. Was nützt ein institutioneller Rahmen, den niemand auszufüllen vermag! Und welche Chance wird verpaßt, wenn niemand sich darauf versteht, auf veränderte historische Konstellationen die richtigen Antworten auf die richtigen Fragen zu geben! Wenn die Zeit danach ist, daß eine neue Entwicklung sich Bahn zu brechen vornimmt, so sind es doch wohl die Träger dieser Entwicklung, die unsere ganze Aufmerksamkeit verdienen, da sie die an die Oberfläche des Geschehens drängenden Ideen und Prinzipien zu kanalisieren und dem Ganzen Festigkeit und Dauerhaftigkeit zu verleihen verstehen. Ich möchte hier nicht einer Stilisierung der Person Suhrs das Wort reden. Aber es steht doch zweifelsfrei fest, daß die Begründung der Politikwissenschaft in Berlin ohne Suhrs Entschlußkraft, ohne sein zielgerichtetes Vorgehen nicht so konfliktfrei hätte vonstatten gehen können wie geschehen. Was Suhr natürlich manches erleichtert hat und was in Westdeutschland eine Seltenheit gewesen ist, ist, daß er eine Mannschaft um sich hat sammeln können mit einer gewissen homogenen Bindung. Suhr ist meiner Ansicht nach derjenige gewesen, der es verstanden hat, nicht nur die in Denkschriften niedergelegten Anschauungen sinnvoll zu synthetisieren, sondern mehr noch diese für die politische wie wissenschaftliche Praxis applikabel zu machen und ihnen die erforderliche Alizep-Ianz n) besorgen. Auch für die Situation in Westdeutschland läßt sich sagen, daß hier die Herausbildung der Politikwissenschaft eng mit dem Einsatz bzw. Nichtengagement einzelner Persönlichkeiten zusammenhängt. Erwin Stein und Hermann Brill in Hessen, Carlo Schmid in Tübingen, die Professoren Jaspers und Alfred Weber in Heidelberg wären hier zu nennen. Persrinliche Präferenzen und Qualitäten sind doch hier zu unterschiedlich ausgeprägt, als daß der Politikwissenschaft ein größerer Durchbruch hätte gelingen können. Es handelt sich im Falle der Politikwissenschaft weder um Brüche noch um Kontinuitäten, auch nicht um Neuanfänge, sondern überhaupt um Anfang. Es gibt gar keinen Zweifel, daß diese Feststellung für Westdeutschland zutrifft; aber sie gilt auch ftir Berlin. Literatur Arndt, Hans-Joachim, 1978: Die Besiegten von 1945. Versuch einer Politologie für Deutsche samt einer Würdigung der Politikwisenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin. Kastendiek, Hans, 1977: Die Entwicklung der westdeutschen Politikwissenschaft. Frankfurt/M un<j New York. Mohr, Arno, 1988: Politikwissenschaft als Alternative. Bochum. Mohr, Arno, 1989: Entstehung und tlntwicklung der Politikwissenschaft in Hessen. In: Michael Th. Greven u. Hans-Gerd Schumann (Hg.): a0 Jahre Hessische Verfassung -40 Jahre Politik in Hessen. Opladen. 211-231. Suhr, Otto, i949: Referat auf der Tagung von Waldleiningen. In: Hessischen Ministerium für Erziehung und Volksbildung (Hg.) Protokollband der Tagung von Waldleininsen. Frankfurt/M. 45-49. Huberfiß Buchstein Auf der gemeinsamen Suche nach einer nmodernen Demokratietheorie": Otto Suhr, Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel. Ernst Fraenkel, Otto Suhr und Franz L. Neumann in ihrem Beitrag zur westdeutschen Politikwissenschaft nicht nur in einem Atemzug zu nennen, sondern ihnen daniber hinaus die gemeinsame Arbeit an einem demokratietheoretischen Projekt zu attestieren, mag auf den ersten Blick überraschend anmuten: wird Neumams Spätwerk doch in den Kontext der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule gestellt', hat Suhr in der bisherigen Wissenschaftsforschung in erster Linie als erfolgreicher Wissenschaftsnranager bei der Wiedergründung der Deutschen Hochschule ftir Politik (DHfP) seinen Ruf und wird Fraenkels Ausformulierung der Neopluralismustheorie erst auf die frühen sechziger Jahre datiert'.

(2020) Zur Pathogenese politischer Apathie. Neurotische Angst und politische Regression im Spätwerk Franz L. Neumanns

Martin, Susanne/Linpinsel, Thomas: Angst in Kultur und Politik der Gegenwart, 2020

Franz L. Neumann, als Politik- und Rechtstheoretiker lose ans Frankfurter Institut für Sozialforschung im amerikanischen Exil angegliedert, rekurriert sowohl in seinem Opus Magnum über den Nationalsozialismus, dem Behemoth, als auch in seinem Spätwerk auf das Phänomen der Angst als Tendenz politischer Desintegration in modernen kapitalistischen Gesellschaften. Insbesondere Reflexionen über das Verhältnis von Angst und Entfremdung stellen den Kern seiner letzten, mit Angst und Politik betitelten Publikation dar, in der er Erkenntnisse der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie mit denen psychoanalytischer Sozialpsychologie verbindet. Anders als andere Kritische Theoretiker konzentriert sich Neumann dabei explizit auf die Analyse regressiver politischer Bewegungen, die über die Institutionalisierung gesellschaftlich bedingter Ängste Anhänger mobilisieren. Im Beitrag sollen Grundkategorien von Neumanns Theorie politischer Apathie rekonstruiert und bei ihm nur implizite, aber für das Verständnis seiner politischen Theorie der Angst wichtige Elemente expliziert werden.

Die identitäre Ideologie. Wiederkehr des völkischen Denkens

perspektivends , 2018

Nationalistische Ideen haben in der gegenwärtigen Politik Konjunktur. Dabei ist auch die Wiederkehr einer völkisch-traditionalistischen Ideologie zu beobachten. Der völkische Nationalismus behauptet, dass ethnisch homogene Gemeinschaften existierten und die Grundlage eines politischen Gemeinwesens darstellten. Zudem wird ein traditionalistisches Verständnis von sozialen Beziehungen (z.B. Geschlechterrollen) propagiert. Dieser konservative Diskurs geht von einer kulturkritischen Zeitdiagnose aus: Ökonomische, gesellschaftliche und politische Entwicklungen wie Globalisierung, Migration oder Feminismus werden als Bedrohung der völkisch-traditionalistischen Identität interpretiert. Der völkische Nationalismus ist in rechtsextremen Gruppen weit verbreitet. Mittlerweile wirken völkische Ideen jedoch weit in die bürgerliche Mitte hinein, nicht zuletzt aufgrund der erfolgreichen Strategien der sogenannten „Neuen Rechten“. Die Identitäre Bewegung (IB) spielt in dieser Szene eine wesentliche Rolle und wird zumeist als eine „neurechte Jugendbewegung“ (Bruns et al 2017) definiert. Diese Einschätzung möchte ich im Folgenden näher betrachten. Meine Auseinandersetzung mit der Ideologie der IB umfasst drei Schritte: Im ersten Schritt wird mit dem Konzept des Ethnopluralismus, das Grundmotiv der identitären Ideologie, analysiert. Im zweiten Schritt entfalte ich eine genealogische Perspektive. Deshalb wird hier eine bestimmte Variante völkischen Denkens der 20er und 30er Jahre thematisiert. Ausgehend von einer kulturkritischen Zeitdiagnose entwickelten Philosophen wie Alfred Baeumler (1887–1968), Ernst Krieck (1882–1947) oder Erich Rothacker (1888–1965) eine identitätspolitische Antwort auf die Moderne und sahen diese im Nationalsozialismus (NS) verwirklicht. Der völkische Partikularismus war das Grundmotiv dieser politischen Anthropologie. Meine genealogische Analyse wird zeigen, dass die IB keine „neurechte Jugendbewegung“ (Bruns et al 2017; Hervorhebung J.S.) in einem inhaltlichen Sinne ist. Denn die identitäre Ideologie ist keine Erneuerung, sondern eine simple Wiederkehr völkischen Denkens, das bereits vor 1945 weit verbreitet war. Im dritten Schritt präsentiere ich eine Kritik der völkischen Ideologie, die sich auf das Modell der „ethnokulturellen Identität“ konzentriert.

Eugen Lembergs „Nationalismustheorie“

2004

Jede wissenschaftliche Arbeit kann auf zwei Weisen analysiert werden: Man kann sie aus ihrer Zeit heraus begreifen und ihren unmittelbaren Einfluss auf die zeitgenössische Forschung untersuchen, oder ihrem Weiterleben nachgehen, ihre Wirkungsgeschichte nachzeichnen. Dabei zeigt sich, dass die meisten Werke mit der Zeit immer weniger rezipiert werden, bis sie schließlich zum bloßen bibliographischen Hinweis absinken. Das ist das Schicksal jeder wissenschaftlichen Untersuchung. Eugen Lembergs zweibändiges Werk über den Nationalismus aus dem Jahr 1964, dem ich mich im Folgenden auf beiden angedeuteten Ebenen nähern werde, bildet hier keine Ausnahme. Zweimal habe ich mich mit Eugen Lembergs Nationalismustheorie auseinander gesetzt, allerdings immer mit jenen Abschnitten seines Werkes, die dem Prozess der Formierung moderner Nationen gewidmet sind, nicht mit seinen Überlegungen zu den in der Gegenwart politisch wirksamen Aspekten des Nationalismus. Das erste Mal befasste ich mich kurz nach dem Erscheinen von Lembergs Nationalismusbuch mit seinen Ideen, genau zu der Zeit, in der ich mich nach methodischen und terminologischen Inspirationen umsah, die mir den Einstieg in meine komparative Untersuchung nationaler Bewegungen erleichtern sollten. Anfang der 1990er Jahre, als ich mich mit der Entwicklung von Theorien und Konzepten zu nationalen Formierungsprozessen beschäftigte, las ich Eugen Lemberg zum zweiten Mal. Ich begegnete seinen Theorien also in unterschiedlichen Etappen meiner eigenen Forschungen und unter veränderten gesellschaftlichen Umständen. Und es waren zwei völlig verschiedene Motive, die mich zu Lembergs Werk führten. Im ersten Fall sah ich, dass Lembergs Buch am Ende einer langen Reihe von Werken über die Nation und die Nationsbildung stand, von denen ein großer Teil einer primordialistischen Sicht verpflichtet und mit einem politischen Narrativ verbunden war, während ein kleinerer Teil wie die Arbeiten von Hans Kohn oder Elie Kedourie eher spekulativ vorgingen. Und schließlich arbeitete ich in einem Land, in dem noch immer das stalinistische Modell als verbindlich galt. Was konnte Lembergs Buch einem jungen Forscher damals bieten, der eine Alternative zu diesem Modell suchte und zugleich beabsichtigte, den damals als verdächtig geltenden Weg des historischen Vergleichs anzutreten? Vor allem beeindruckte mich die Fülle des empirischen Materials, die Breite des Horizonts. Ermunternd wirkte der Mut und natürlich auch die Fähigkeit Lembergs, auf der Basis der empirischen Daten zu generalisieren, Fragen von großer Tragweite zu stellen und zu beantworten. In einer Atmosphäre, in der einerseits auf traditio-* Dieser Text ist die leicht ergänzte Version eines Vortrages, der am 16. Januar 2004 im Collegium Carolinum gehalten wurde.

POLITISCHE IDENTITÄTEN. Zur Kritik der linken Identitätskritik

in Sylke Bartmann u.a. (Hrsg.): Kollektives Handeln. Politische Mobilisierung zwischen Struktur und Identität (Düsseldorf 2002, S.57-77), 2002

Der Begriff der Identität entwickelte sich in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre sprunghaft von einem sozialwissenschaftlichen Randbegriff zu einem ausgesprochen umstrittenen Zentralbegriff der politischen Theoriediskussion. Umstritten ist dabei nicht nur, was »Identität« eigentlich bezeichnen soll und kann, umstritten ist gleichermaßen, warum der Begriff überhaupt aufkam. Gerade auf der Linken (im weitesten Sinne des Wortes) ist es seit Beginn der 90er-Jahre vorherrschend geworden, die Rede von der Identität mit einem prinzipiellen Fragezeichen zu versehen und als Ausweis »falschen« Denkens anzusehen. Für Lothar Baier sendet der Begriff der Identität »die süßen Sirenentöne der Regression« aus. Er lasse sich nur sinnvoll gebrauchen, »wenn man etwa aus-57 1 Der Beitrag ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines zuerst in der Zeitschrift Gewerk

Popularisierter Rechtsextremismus: Die Identitären in Deutschland

Seit Herbst 2012 organisieren sich junge Erwachsene in Europa als AktivistInnen sogenannter „identitärer“ Gruppen. Ihren Ursprung h aben sie in Frankreich, wo sich die Génération Identitaire als Jugendorganisation der Wahlpartei Bloc Identitaire gegründet hat. Ein Vorbild dieser rechtsextremen Gruppen, deren Ableger sich auch in Deutschland und Österreich finden, ist unter anderem Casa Pound in Italien (Vgl. Koch 2013), eine neofaschistische Organisation, die über eine groß angelegte Infrastruktur verfügt und schon seit 2003 das betreibt, was auch deutschsprachige Identitäre zum Ziel haben: die Kulturrevolution von rechts befördern. Die Identitären sind Teil einer jungen Generation innerhalb der Neuen Rechten, die sich zwar vom Nationalsozialismus abwendet, sich jedoch auf alternative rechtsextreme Deutungsmuster stützt. Mit populärkulturellen Elementen, Aktionen und neurechter Rhetorik sind die Identitären anschlussfähig und popularisieren Rechtsextremismus.