Wo bleiben die neuen Wege beim Absetzen von Psychopharmaka? (original) (raw)
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Psychopharmaka absetzen – gewusst wie
Pro Mente Sana Aktuell, 1998
Kenntnisse helfen beim umsichtigen Absetzen. Vor dem Absetzen – auf Grundlage eines eigenen, klaren Entschlusses – ist es sinnvoll, sich über die Vielfalt der möglichen Absetzprobleme und Entzugserscheinungen zu informieren. Als Entzugserscheinungen gelten Störungen und Probleme, die vor Einnahme der Psychopharmaka nicht oder nicht in einem solchen Ausmass vorhanden waren. Die genaue Kenntnis der möglichen Entzugserscheinungen soll den Betroffenen und den sie unterstützenden Personen Gelegenheit geben, im Falle von Absetzproblemen diese realistisch einzuschätzen. Nur so können sie angemessen reagieren, um den Entzugsprozess zum positiven Ende zu bringen. Beim Absetzen aller Psychopharmaka besteht das Risiko, dass ausser den gewöhnlichen Entzugserscheinungen weitere Absetzprobleme wie z.B. vorübergehende Reboundeffekte auftreten: gegenregulatorisch wirkende Anpassungsreaktionen, die zu einem verstärkten Wiederauftreten der ursprünglichen Symptomatik führen. Die gewissermassen spiegelbildlich auftretenden Reboundeffekte machen es besonders schwierig, Entzugserscheinungen als solche zu erkennen und gegen die ursprünglichen Probleme abzugrenzen. Auch dass Supersensitivitätserscheinungen (Delire, Entzugspsychosen usw.) auftreten können, sollte bei der Entscheidung über ein mögliches Absetzen (und – noch besser – schon über einen Beginn der Einnahme) berücksichtigt werden. Aber auch Schlafstörungen, weitere geistig-zentralnervöse Entzugserscheinungen, Muskel- und Bewegungsstörungen sowie lästige, gelegentlich sogar lebensgefährliche vegetative Symptome sind einzukalkulieren, weshalb viele Mediziner einen stufenweisen Entzug befürworten.
Kompetente Hilfen beim Wunsch, Psychopharmaka abzusetzen
›Perspektiven der psychiatrischen Krankenhäuser – Mit und ohne Bett‹. Tagungsdokumentation 25./26. und 27. September 2023 in Berlin, 2024
Psychopharmaka absetzen als bloßen Wunsch zu bezeichnen, würde der häufigen medizinischen Notwendigkeit, angesichts sich abzeichnender chronischer oder lebensbedrohlicher Wirkungen von Psychopharmaka diese Substanzen rasch abzusetzen, nur ein geringes Gewicht geben. Das Absetzen kann auch die Folge der Erkenntnis sein, dass ihre prophylaktischen Wirkungen mehr eine Behauptung als eine nachgewiesene Wirkung sind. Dem Entschluss zum Absetzen liegen oft genug befürchtete Rezeptorenveränderungen, die zu erheblichen Problemen beim Absetzen führen können, zugrunde. Und natürlich handelt es sich beim Absetzen von Psychopharmaka auch und insbesondere um die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts und des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit. Einzig angesichts der praktizierten strukturellen Verletzung dieser Rechte wäre es berechtigt, von einem Wunsch zu sprechen – von einem Wunsch nach kompetenter Hilfe. Da diese Hilfen – entgegen den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention und der WHO – in der Regel bisher nicht gewährt werden, sehen die Betroffenen oft nur den Ausweg, auf eigene Faust vorzugehen.
Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): »Statt Psychiatrie«, 1993
Psychiatrie bedeutet vieles: Umwertung von sozial und politisch unbequemen Handlungsweisen, Gefühlen und Entwicklungen zu psychischen Krankheiten; Abstempelung der Betroffenen als kranke, heilungsbedürftige, minderwertige Menschen; Aussonderung aus der Gemeinschaft von – mehr oder weniger – Gleichen und Einschließung in psychiatrische Gefängnisse oder Abschiebung in andere Sondereinrichtungen; Vorenthaltung psychischen und sozialen Beistands, sofern gewünscht, statt dessen Behandlung des Körpers zur Unterdrückung unerwünschter ›Krankheitszeichen‹, derzeit meist mittels Psychopharmaka (chemischen Knebeln). Aufgrund der extrem schädlichen Wirkung moderner psychiatrischer Behandlungsmaßnahmen (Elektroschock; Neuropsychopharmaka, speziell Neuroleptika) muss die Diskussion über neue Wege der Psychiatrie-Entwicklung auch eine kritische Bestandsaufnahme sozialpsychiatrischer, d.h. auf Neuroleptika-Dauerverabreichung basierender, Reformversuche leisten. Es wäre zynisch, die Anwendung von Neuroleptika gegen DissidentInnen in totalitären Ländern als Folter anzuprangern und dieselbe Behandlung hierzulande als therapeutische Hilfe ausgeben zu wollen. Dem widerspricht nicht, dass es eine Reihe von Menschen gibt, die sich aus eigenem Entschluss in psychiatrische Psychopharmaka-Behandlung geben. Menschliche Hilfeleistung in psychischen und sozialen Notlagen kann nicht mit (sozial-)psychiatrisch-medizinischen Maßnahmen auf Grundlage entrechtender Eingriffe geleistet werden, sondern nur in Form von psychischem und sozialem Beistand, basierend auf dem Recht auf freie Wahl der Hilfe sowie dem Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Betroffene, gegen deren Selbstbestimmungsrecht die Psychiatrie verstößt, sollten sich zusammenzuschließen, ihre Interessen in die eigenen Hände nehmen und (unter Berücksichtigung ihres Rechts auf psychopharmakafreie Hilfe) an den Aufbau selbstverwalteter und nutzerkontrollierter alternativer Einrichtungen machen.
Indikationen zum Absetzen ärztlich verschriebener Psychopharmaka
›Perspektiven der psychiatrischen Krankenhäuser – Mit und ohne Bett‹. Tagungsdokumentation 25./26. und 27. September 2023 in Berlin, 2024
Die Bewertung von Neuroleptika und Antidepressiva steht primär den Behandelten zu. Die einen finden sie hilfreich, die anderen verabscheuen sie. Fakt ist, und darauf kommt es hier an, dass viele sie absetzen, jedoch keine Informationen über Entzugsprobleme und deren Milderung und keine Unterstützung bekommen. Ärztlich Tätige müssen diese Psychopharmaka im Falle akut lebensbedrohlicher »Nebenwirkungen« sofort absetzen. Absetzen kann man aber auch zur Vorbeugung gesundheitlicher Schädigungen, als Reaktion auf bereits eingetretene Schäden, aufgrund der zweifelhaften prophylaktischen Wirkung oder zur Vermeidung von Toleranzbildung, Rezeptorenveränderungen, Behandlungsresistenz und Medikamentenabhängigkeit. Über allem stehen die »Freiheit zur Krankheit«, das Recht auf Gesundheit und das Selbstbestimmungsrecht. Besondere Berücksichtigung sollten die UN-Behindertenrechtskonvention und die WHO finden, die Hilfeprogramme für Personen einfordern, die ärztlich verschriebene Psychopharmaka absetzen wollen.
Walnussblatt, 2024
Worauf müssen Ärztinnen und Ärzte, Psychiater inklusive, sowie Betroffene und Angehörige beim Reduzieren und Absetzen achten? Welche Hilfen sind möglich, wenn man mit dem Absetzen alleine nicht klarkommt? Psychopharmaka werden millionenfach verschrieben. In ihrer Ausbildung lernen Ärzte, wie man sie verabreicht. Jedoch nicht, wie man sie wieder absetzt. Die Verabreichungszahlen steigen ständig. Auch in Altersheimen stellt man immer mehr störende und unbequeme Menschen mit Psychopharmaka ruhig. Seid froh, wenn Ihr noch nicht betroffen seid.
Wege zu effektiven Psychotherapien
VS Verlag für Sozialwissenschaften eBooks, 1999
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Psychopharmaka reduzieren und absetzen – Praxiskonzepte für Fachkräfte, Betroffene, Angehörige, 2023
»Psychopharmaka reduzieren und absetzen« präsentiert Erkenntnisse und Erfahrungen von professionell Tätigen, Betroffenen und Angehörigen, um Menschen zu helfen, die Schäden (einschließlich der Medikamentenabhängigkeit) zu verstehen, die ärztlich verschriebene Psychopharmaka verursachen – allen voran Antidepressiva und Neuroleptika (Antipsychotika), die im Mittelpunkt dieses Buches stehen. Im ersten Teil »Vorbereitung auf das Reduzieren und Absetzen von Psychopharmaka« zeigen die Autorinnen und Autoren, dass das Absetzen von Psychopharmaka sinnvoll und medizinisch geboten sein kann. Sie belegen die zweifelhafte prophylaktische Wirkung von Antidepressiva und Neuroleptika und die Gefahr einer Chronifizierung der ursprünglichen Probleme durch die fortgesetzte Einnahme. Dabei gibt es eine Reihe von Prädiktoren, die auf ein erfolgreiches Absetzen schließen lassen. ... Vor allem aber soll das Buch professionell Tätigen, Betroffenen, ihren Angehörigen und ihrem Freundeskreis nicht nur Hoffnung geben, sondern eine konkrete Gebrauchsanleitung bieten, worauf sie beim Absetzen von Psychopharmaka besonders achten sollten bzw. wie sie kompetent unterstützen können.
Kerbe – Forum für Sozialpsychiatrie, 2013
Zunehmende Verarmung und steigender Arbeitsstress weiter Teile der Bevölkerung gehen mit wachsender Demoralisierung einher. Folgen sind anschwellende Raten psychiatrischer Diagnostizierung und Unterbringung. Was wäre also für eine Ordnungsmacht und medizinisch-naturwissenschaftlich orientierte Disziplin zeitgemäßer, als mit erzwungener Anwendung der verfügbaren disziplinspezifischen Methoden – der Verabreichung psychiatrischer Psychopharmaka und Elektroschocks – der eigenen Rolle gerecht zu werden: psychische Probleme überwiegend sozialer Natur befrieden zu wollen? Die Lizenz zu psychiatrischer Gewalt erscheint um so zynischer, je gleichgültiger Psychiaterverbände die massiv verkürzte Lebenserwartung ihrer Patienten ignorieren, je öfter das Bundesverfassungsgericht das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit betont und je länger sich Politiker weigern, die Forderungen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen umzusetzen.