Wie »grün« muss die Linke sein? Zur Frage der Gerechtigkeit: Verkürzungen der aktuellen Klimadebatte und herrschender Nachhaltigkeit (original) (raw)
Am Ende des umfangreichen Essays Wir sind nie modern gewesen, der 1991 zum ersten Mal publiziert wurde, steht eine Mahnung, deren Dringlichkeit sich aus dem politischen Ereignis ableitet, das mit dem Datum 1989 verbundenen ist. Mit dieser Mahnung appelliert Bruno Latour an den Leser, genau zu überlegen, welche Konsequenzen aus dem »Fall der Berliner Mauer« zu ziehen sind. Denn während die scheinbare Alternative darin besteht, den Zusammenbruch des Sozialismus entweder als einen historisch unumkehrbaren Sieg zu feiern oder aber als eine Niederlage zu betrachten, mit der jede geschichtliche Teleologie endgültig unerkennbar geworden ist, geht es Latour darum, das moderne Verständnis von Geschichte, das diese alternativen Deutungen ermöglicht hat, seinerseits in Frage zu stellen. »An uns ist es«, lautet der vorletzte Satz des Essays, »die Art und Weise zu ändern, wie wir verändern.« 1 Bei diesem Vorschlag, angesichts der Ereignisse von 1989 unsere Vorstellungen von Veränderung zu überdenken, handelt es sich deshalb um eine Mahnung, weil die sich darbietende Chance für Latour unmittelbar den intellektuellen Erschütterungen geschuldet ist, die das Ende des »Kalten Krieges« ausgelöst hat: »Ob wir nun antimodern, modern oder postmodern sind, der zweifache Zusammenbruch des wundersamen Jahres 1989 stellt uns alle erneut in Frage.« 2 Wer diese intellektuellen Erschütterungen vorschnell zudeckt, indem er das Ereignis zum Anlass nimmt, seine Ansichten bestätigt zu finden oder sich damit auseinanderzusetzen, warum das nicht der Fall ist, läuft Gefahr, diese einmalige Chance zu verpassen. Denn jenseits der Frage von Sieg und Niederlage, die sich an der politischen Deutung der Ereignisse von 1989 entzündet hat, könnte sich mit diesem Ereignis eine Umwälzung ankündigen, die zwar auf den ersten Blick revolutionäre Züge trägt, sich aber nicht mehr den Prämissen des modernen Geschichtsdenkens einfügt: Im »selben glorreichen Jahr 1989«, so schreibt Latour, »fanden in Paris, London und Amsterdam die ersten 1 Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 2008, S. 192. 2 Ebd. S. 18. 2 Konferenzen über den globalen Zustand des Planeten statt, und dies symbolisiert für manche Beobachter das Ende des Kapitalismus und seiner eitlen Hoffnungen der unbegrenzten Eroberung und totalen Beherrschung der Natur.« 3 Wer sich angesichts der Ereignisse als Sieger empfunden hat, könnte sich also zu früh gefreut haben. Und wer in diesen Umwälzungen eine Niederlage gesehen hat, könnte zu unrecht an einer Enttäuschung festhalten, die ihm den Blick für das tatsächliche Geschehen verstellt. Denn die Krise, die für Latour mit dem Datum 1989 markiert ist, betrifft nicht nur die eine Seite der beiden ehemals antagonistischen Blockmächte, sondern das moderne Verständnis von Geschichte insgesamt und vor allem die damit verbundenen Hoffnungen auf Gerechtigkeit, von denen beide Seiten bis dahin gleichermaßen gezehrt haben. Aus diesem Grund meint Latour, von einem »zweifachen Zusammenbruch des wundersamen Jahres 1989« sprechen zu können und seine Mahnung sowohl an die richten zu müssen, die sich auf die Seite der vermeintlichen Sieger stellen, als auch an die, die sich mit der Seite der Verlierer identifizieren. Um zu unterstreichen, was auf dem Spiel steht, wenn man die Chance verpasst, unser Geschichtsverständnis grundsätzlich zu überdenken, spannt der letzte Satz des Essays einen historischen Bogen, der das Datum 1989 an das Datum 1789 bindet und damit an ein Ereignis, das wie kaum ein anderes in der Lage ist, unser Verständnis von Modernität zu repräsentieren. Der letzte Satz lautet: »Oder es war umsonst, daß die Berliner Mauer während des wundersamen Jahrs der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution fiel, um uns diese einzigartige Lektion der Dinge über das gemeinsame Scheitern von Sozialismus und Naturalismus zu erteilen.« 4 Mit diesem historischen Bogen reiht Latour sein politisches Anliegen eines »Parlaments der Dinge« in die zahlreichen intellektuellen Versuche Anfang der 1990er Jahre ein, eine geschichtsphilosophische Antwort auf das unerwartete Ende der politischen Blocksituation zu finden. 5 Unabhängig davon, aus welcher politischen Überzeugung diese Versuche unternommen wurden, besteht ihre überraschende Übereinstimmung darin, dass es ihnen nicht allein um die Deutungshoheit über den gerade erlebten Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischer Prägung geht. Vielmehr 3 Ebd. S. 16. 4 Ebd. S. 192. 5 Ein systematischer Überblick zu den philosophischen Hintergründen dieser Versuche findet sich bei Martin Meyer: Ende der Geschichte?, München 1993, S. 17-61. Vgl. auch Leander Scholz: »Die Geschichte nach ihrem Ende«, in: Sprache und Literatur, Nr. 96 (2005), S. 41-55. scheint die intellektuelle Erschütterung, die von diesem Ereignis ausgeht, derart weitreichend zu sein, dass selbst die Französische Revolution als das Grundereignis der Moderne noch einmal fraglich wird und daher einer erneuten Deutung unterzogen werden muss. Dieser Vorgang ist deshalb bemerkenswert, weil sich die Einigkeit hinsichtlich der historischen Bedeutung der Französischen Revolution über die Grenzen aller maßgeblichen Parteien hinweg als eine der zentralen Leistungen des politischen Diskurses in der westeuropäischen Nachkriegszeit verstehen lässt. 6 Dass sich die intellektuellen Antworten Anfang der 90er Jahre genötigt sehen, mit der Frage, welche Konsequenzen der »Fall der Berliner Mauer« für das moderne Verständnis von Geschichte hat, zugleich auch den Grundkonsens bezüglich der Französischen Revolution aufzugeben, macht daher deutlich, wie umfassend die Krise von 1989 erlebt wurde. Wenn Latour sein politisches Projekt eines »Parlaments der Dinge« in den Kontext dieser Diskussionen stellt und ebenfalls die Interpretation des Datums 1989 an eine Interpretation des Datums 1789 bindet, dann lässt sich das nicht bloß als eine den historischen Umständen geschuldete Geste auffassen, sondern muss als ein wichtiger Hinweis darauf genommen werden, auf welches Problem dieses Projekt eigentlich reagiert. Schon ein erster und grober Blick auf die von Latour entfaltete Argumentation zeigt, dass auch er der Meinung ist, man könne die politischen und gesellschaftlichen Probleme der Globalisierung, mit denen wir es seit Anfang der 90er Jahre zu tun haben, nur lösen, wenn man in der Lage ist, das revolutionäre Ereignis von 1789 gedanklich auf eine andere Weise in Besitz zu nehmen, als das bislang geschehen ist. Denn obwohl Latour das Ansinnen, selbst »revolutionäre Aktionsprogramme« 7 aufzustellen, weit von sich weist und jeden »weiteren Aufruf zur Revolution« für »veraltet« und darüber hinaus sogar für »gefährlich« hält, 8 so sind die einzelnen Stationen seiner Argumentation von einer geradezu mimetischen Haltung gegenüber den historischen Revolutionsakten des 18. Jahrhunderts geprägt und münden schließlich wie diese in die Einberufung einer konstituierenden Versammlung, deren vorrangige Aufgabe darin besteht, eine neue Verfassung zu erlassen. Man könnte diese merk-6 Vgl. dazu Jürgen Habermas: »Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik« (1983), in: ders.: Die Moderne -ein unvollendetes Projekt. 8 derholende Übertragung für Rancière niemals abgeschlossen sein, sondern ereignet sich unter wechselnden Bedingungen stets aufs Neue. Der »Name des Proletariats« darf daher nicht mehr im Sinne des marxistischen »Klassenkampfes« verstanden werden, der als prinzipiell beendbar erscheint, sondern bezeichnet jetzt den »Anteil der Anteilslosen«: »Der Name des Proletariats ist der reine Name der Ungezählten, eine Weise der Subjektivierung, die den Anteil der Anteilslosen in einen neuen Streit stellt.« 19 Auf diese Weise stellt Rancière sicher, dass sich die Umwälzungen von 1989 in eine historische Kette von politischen Interventionen einordnen lassen, ohne dass sich die damit verbundene revolutionäre Kraft jemals verlieren kann. Sowohl Fukuyama als auch Rancière reagieren also auf die Erschütterungen von 1989 so, dass sie darin eine Wiederholung sehen, der man eine geschichtliche Fassung geben muss. 2. Die Neurosen der Geschichte Wenn man Latours sicherlich auch provokativ gemeinte Parole, wir seien nie modern gewesen, in den Kontext dieser Reaktionen auf den »Fall der Berliner Mauer« stellt, dann lässt sich diesem Satz darüber hinaus auch ein therapeutisches Projekt ablesen, das unser Denken vom Horizont der Geschichte und ihren Zwängen zur Wiederholung entbinden soll. Denn dass wir nie modern gewesen sind, meint weder eine antimoderne, noch eine postmoderne Position, sondern dass ein bestimmtes Ereignis, aus dem die Moderne ihr maßgebliches Selbstverständnis bezieht, in der Weise dieses Selbstverständnisses überhaupt nicht stattgefunden hat. Der »zweifache Zusammenbruch des wundersamen Jahres 1989« gibt für Latour insofern den Ausgangspunkt seines Projektes ab, als er ihn als »zwei Seiten einer Medaille« auffasst, »[...] als zwei Lektionen, deren erstaunliche Symmetrie uns erlaubt, unsere ganze Vergangenheit in einem anderen Licht zu sehen.« 20 Der mimetische Rückbezug auf die Konstitutionsakte des 18. Jahrhunderts ist bei Latour nicht bloß einer Erweiterung des modern gefassten Sozialen geschuldet, 21 bei der über menschliche Akteure hinaus 19 Rancière: Das Unvernehmen (wie Anm. 14), S. 95. 20 Latour: Wir sind nie modern gewesen (wie Anm. 1), S. 18. 21 Zur kritischen Darstellung dieser Problematik vgl. Gesa Lindemann: »›Allons enfants et faits de la patrie ...‹ -Über Latours Sozial-und Gesellschaftstheorie sowie seinen Beitrag zu Rettung der 9 auch nicht-menschlichen Akteuren eine Stimme im »Parlament der Dinge« verliehen werden soll, sondern zielt auf eine grundsätzliche Verschiebung des Sinns dieser konstitutionellen Akte ab. Wer in dieser Verschiebung lediglich eine Ausweitung sieht, mit der die Aufmerksamkeit auf die besondere Rolle von nicht-menschlichen Akteuren bei der...
Gerechtigkeit im Treibhaus : für eine Neuausrichtung der Klimapolitik
2017
Wenn sich im November die internationale Staatengemeinschaft zur 23. UN-Klimakonferenz (Conference of the parties, kurz COP23) in Bonn trifft, um uber die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens zu beraten, wird auch die Forderung nach mehr Gerechtigkeit in der Klimapolitik laut werden. Denn die Parole "Climate Justice" ist in den 2000er-Jahren nicht nur zur Fanfare der Zivilgesellschaft geworden, die die internationale Klimapolitik bis heute begleitet. Langst fordern auch die vom Klimawandel besonders betroffenen Staaten, die Hauptverursacher der Erderwarmung - und damit vorwiegend die Staaten des globalen Nordens - starker in die Pflicht zu nehmen. Doch was hat es mit der "Climate Justice" auf sich? Wie verandert sich der Klimadiskurs, wenn man die Gerechtigkeitsperspektive einnimmt? Und welche Folgen hat das fur die Entwicklungspolitik? Mit diesen Fragen befasst sich der vorliegende Beitrag.
Grüne Politik ist heute längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Doch wie ist es dazu gekommen, wo liegen die Ursprünge und die Ursachen für diesen rasanten Aufstieg, der längst auch die großen Parteien erfasst hat? Für den Soziologen Andreas Pettenkofer handelt es sich dabei um eine unwahrscheinliche Entwicklung, die weder mit Theorien rationalen Handelns noch mit der systemischen Notwendigkeit im Modernisierungsprozess allein erklärt werden kann. Es bedarf einer anderen Erklärung, die individuelle Erfahrung, Ereignisse und Strukturen gleichermaßen ernst nimmt. Pettenkofer wählt einen religionssoziologischen Ansatz, und dabei wird ihm die jüngere Vergangenheit zu einem fernen Land, wo er die seltsamen gemeinschaftsstiftenden und manchmal auch gewalttätigen Rituale seiner fremdartigen Bewohner untersucht.
Neoliberalismus, Globalisierung und der Kampf um „Ökologische Gerechtigkeit“
PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft
in the To sustain higher profits in the new global economy, US-American capitalism is adopting increasingly unsustainable forms of production. But not all citizens bear the “externalized” social and ecological costs of American business equally. The working poor and discriminated ethnic groups suffer much more than others by this unsustainable forms of production. A growing movement for Environmental Justice combines social and ecological claims. But it will have to attack not only the distribution of the pollution and the danger but also the capitalist form of its production.
Der «rechte Weg» zur Nachhaltigkeit
Abstimmungen stellen hohe Ansprüche an die Stimmenden. Komplexe Vorlagen können mitunter so undurchsichtig sein wie der Nebel auf der Riederfurka.
Gerechtigkeit und Effizienz in der Klimapolitik
Wirtschaftsdienst
ZusammenfassungDie Klimapolitik sollte den Anforderungen der Gerechtigkeit ebenso wie denen der Effizienz genügen. Dabei sind die zum Einsatz kommenden Instrumente von zentralem Interesse. Jedoch werden meist lediglich die ambitionierten Klimaziele benannt. Vielmehr ist eine offene klimapolitische Diskussion bezüglich innovativer Wege, der zum Einsatz kommenden Instrumente sowie der entstehenden Kosten notwendig. Hierdurch wird auch die gesellschaftliche Akzeptanz gefördert. Zudem ist der Klimawandel ein weltweites Phänomen, weshalb der Klimaschutz nur durch internationale Kooperationen gelingen kann.