Das Werden des Lebendigen - Kaasch, Joachim; Kaasch, Michael (Hg.) (original) (raw)
Related papers
Der vorletzte Satz des Romans 1979 von Christian Kracht lautet: »Ich habe mich gebessert« (1979 183). Er wird gerahmt von einem kurzen Abschnitt, der die Situation der Besserung und des dazugehörigen Bekenntnisses angibt. Die beiden vorangehenden Sätze lauten: »Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten«. Das Bekenntnis des Ich-Erzählers, dass eine Besserung stattgefunden hat, wird in einem chinesischen Umerziehungslager gegeben. In diesem Lager wird das Verlangen nach Erziehung, das die lange Reise des namenlosen Protagonisten bestimmt hat, von einer übermächtigen Vater-Instanz erfüllt. Gegen diese Instanz kann der Protagonist nicht aufbegehren. Ihre Macht ist derart weit reichend, dass sie sogar imstande ist, dessen Ich vor sich selbst zu schützen. Denn dass die Individualität der Gefangenen im Lager ausgelöscht werden soll, stellt die Besserung dar, von der das Bekenntnis am Ende des Romans berichtet. Der letzte Satz lautet: »Ich habe nie Menschenfleisch gegessen«. Das ist ein Anlass zur Hoffnung. Weil der Protagonist die grausamen Prüfungen der Lagerexistenz bestanden hat, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, ein »neuer Mensch« (1979 1960) zu werden. Man kann das Datum 1979, das den Titel des Romans abgibt, als Gegen-Chiffre zu 1968 verstehen. Die Romanhandlung beginnt in Iran und findet ihren ersten Höhepunkt auf einer Party der westlich orientierten Oberschicht, die deshalb die letzte ihrer Art sein wird, weil die islamischen Revolution kurz bevor steht. Die Villa des Gastgebers, die den »unfehlbar guten Geschmack« der »Alte[n] Welt« ausdrückt, erzeugt im Erzähler ein »Gefühl des Ankommens und der Reinheit«. Jeder Raum stellt für den Protagonisten, von seinem kalt-
Erich Garhammer / Georg Langenhorst (Hg.): Schreiben ist Totenerweckung. Theologie und Literatur, Echter Verlag, Würzburg 2005, 191 Seiten Literatur / Medien / Kultur 315 Ob eine Publikation ein ¹Standard− werk" darstellt, lässt sich zum Zeit− punkt ihres Erscheinens bestenfalls vermuten oder wünschen, mit Sicher− heit sagen lässt es sich nicht. Des− halb zeugt ein entsprechender Hin− weis im Klappentext zunächst einmal von einem Anspruch. Die Chancen für dessen Einlösung stehen im Fall des vorliegenden Titels, der sich in dieser selbstbewussten Weise einführt, we− nigstens äußerlich betrachtet recht gut. Der Band dokumentiert einen Würzburger Kongress, der sich viel vorgenommen hatte: 20 Jahre nach der Tübinger Tagung, die dem Ge− spräch zwischen Theologie und Lite− ratur(wissenschaft) entscheidende Impulse gegeben hat, sollten Bilanz gezogen und Perspektiven benannt werden ± ein Ziel, das nicht nur aus Jubiläumsgründen, sondern vor al− lem aufgrund der unverkennbaren Konjunktur literatur−theologischer Grenzgängerei sehr zu begrüßen ist. Initiiert wurde der großzügig ange− legte Kongress durch die katho− lischen Praktischen Theologen Gar− hammer und Langenhorst, die beide mit zahlreichen Arbeiten zum Thema hervorgetreten sind. Nebst einer all− gemeinen ¹Hinführung" Garhammers, einem bilanzierenden ¹Ausblick" Lan− genhorsts und unterschiedlich anre− genden Berichten aus den Workshops umfasst der Band fünf Hauptbeiträ− ge: Karl−Josef Kuschel: Literatur und Theologie als gegenseitige Heraus− forderung; Wolfgang Braungart: Li− teraturwissenschaft und Theologie; Terry Wright: Internationale Entwick− lungslinien von ¹Theologie und Lite− ratur"; Klaas Huizing: Ästhetischer Protestantismus; Regina Ammicht− Quinn: Coetzee's ¹Disgrace" und der ethische ¹Mehrwert" des Ästheti− schen. ± Die Vielfalt dieser Arbeit am ,und' zwischen Theologie und Litera− tur kann hier nur angedeutet werden. Im Gegenzug zu den im Band wie ge− nerell dominierenden und eher ver− trauten theologischen Perspektiven soll der Akzent deshalb einerseits auf den selten entfalteten literaturwis− senschaftlichen Positionen liegen (Braungart, Wright), andererseits auf Langenhorsts programmatischem Aus− blick.
Die Umittelbarkeit des Lebendigen ("The Immediacy of the Living")
Abstract This study discusses the perception of “the living” in nature, in the context of cross-curricular gardening, kitchen and food-and-health-science teaching at the Waldorf School. It focuses entirely on the phenomenological and epistemological question: Can the sensitive perception of nature – in its relation with me as a person and with regard to the interconnected nature of the web of life - be developed in such a way that it can motivate ethical behavior in terms of an education for sustainability? Contemporary appeals for a culture of partnership with nature, as voiced by the UNESCO "Education for Sustainability" program, call for the promotion of environmentally compliant motives of action, but they often fall short of showing ways to achieve this. A paradigmatically selected phenomenological study of the dynamic, stepwise unfolding of dawn - its interweaving of sound and color, of cosmic and earthly events, and especially of external and internal processes (the degree of alertness, the embodiment and the individualization as subject in relation to the surrounding) - shows that a deepened nature experience can contribute to healing the subject-object-divide – or at least make it transparent how it came about in the first place; namely by gradually dwelling into one’s own body, while at the same time stepping out of the slowly dissipating half-wake feeling of universal connectedness. This process is being interpreted in terms of structural phenomenology as an expression of a fundamental anthropological fact: the pendulum swing between individualization and universalization in the act of cognition. It is placed within the discourse of a renewed philosophy of nature: Whereas the concepts of ecology, environment and “Gaia” in different ways all tend to leave the experiencing subject out of the pictured reality, the "New Philosophy of Nature" by Gernot Böhme suggests a kind of phenomenology that is able to describe nature qualities within the modern framework of man-made alteration to the environment and to “the nature within” i.e. our own felt body. The possibilities of such an integrative phenomenology of nature, body and consciousness are being tested in an “empathic food test” and finally discussed in terms of their educational potential. Keywords: phenomenology; structural phenomenology; embodiment; critical theory of nature; „Empathic Food Testing“; nutrition; Education for Sustainability; Garden based Learning; anthroposophy; Waldorf education. Deutsche Zusammenfassung Diese Studie thematisiert die Wahrnehmung des Lebendigen in der Natur, vor dem Hintergrund des fächerübergreifenden Unterrichts in Gartenbau, Nahrungszubereitung und Ernährungslehre an der Waldorfschule, jedoch ganz auf die phänomenologische und erkenntnistheoretische Grundfrage konzentriert: Kann die innere Verbindung der Natur – mit mir als Mensch und in sich selbst als gegliederte Erscheinungsformen des Lebendigen – so vertieft sensitiv erfahren werden, dass daraus der Antrieb zu ethischem Handeln im Sinne einer Partnerschaft mit der Natur erwächst? Der Ruf nach umweltkonformen Handlungsmotiven durchzieht zeitgenössische Appelle für eine Kultur der Nachhaltigkeit, auch die Desiderate einer von der UNESCO geforderten »Education for Sustainability«. Eine paradigmatisch ausgewählte Phänomenstudie an den Stufen der Morgendämmerung – in ihrer Durchdringung von Klang- und Farbmetamorphosen, von kosmischem und irdischem Geschehen, und vor allem von äußerer und innerer Dynamik (Grade der Wachheit, der Leibverbindung und der Individualisierung als Subjekt gegenüber dem Umkreis) – zeigt, dass vertieftes Naturerleben die Entfremdung zwischen Mensch und Lebenswelt wenn nicht direkt heilen, so doch in ihrer Genese erfahrbar machen kann: als prozessuale Einwohnung in den eigenen Leib, verbunden mit dem Heraustreten aus der im Halbwachen noch empfundenen Allverbundenheit. Dieser Prozess wird strukturphänomenologisch interpretiert als Ausdruck einer fundamental-anthropologischen Konstante: dem Pendelschlag von Individualisierung und Universalisierung im Erkenntnisprozess. Und er wird eingeordnet in den Diskurs der Naturphilosophie: Während die Begriffe Ökologie, Umwelt und Gaia in jeweils charakteristischer Weise das erlebende Subjekt außen vor lassen, erweist sich die »Neue Naturphilosophie« von Gernot Böhme als adäquates Werkzeug für eine Phänomenologie, die »die Natur vor uns« und »die Natur, die wir selber sind« (also den lebendig gespürten Leib) gleichermaßen ins Auge fasst. Die Möglichkeiten einer solchen integrativen Natur-, Leib- und Bewusstseinsphänomenologie werden ansatzweise in einer wirkungssensorischen Studie zu Qualitäten von Nahrungsmitteln gezeigt und auf ihre pädagogisches Potential hin untersucht. Stichworte: Phänomenologie; Strukturphänomenologie; Leibphilosophie; Kritische Theorie der Natur; Wirkungssensorik; „Empathic Food Testing“ ; Anthroposophie; Waldorfpädagogik; Gartenbauunterricht; Ernährung.
Kant, Goethe, Steiner und die Wissenschaft des Lebendigen
Immanuel Kant und Johann Wolfgang von Goethe haben sich beide intensiv mit dem Problem des Lebendigen auseinandergesetzt, Kant in seiner ›Kritik der Urteilskraft‹, Goethe in seiner ›Metamorphose der Pflanzen‹. Die beiden Schriften, die zeitgleich an Ostern 1790 erschienen, können als paradigmatisch für die Frage nach dem Lebendigen angesehen werden, Kant bezüglich der Zweckmäßigkeit, Goethe bezüglich der Form und ihrer Metamorphose. Rudolf Steiners Darstellungen ermöglichen es, Goethes Methode als die Lösung von Kants Frage zu erkennen.
Die lebendige Substanz und das vermittelte Wissen (2007)
Das Thema meines Vortrags ist die Untersuchung der Hegelschen Kritik des Appells an die intellektu-elle Anschauung als eines unterstellten direkten Zugangs zum Absoluten. Im Namen der Ausarbeitung einer wirklich kritischen Philosophie entfernt sich Hegel von Schelling und nimmt den Dialog mit der Reflexionsphilosophie, d. h. mit Kant und Fichte, wieder auf. Zwei antagonistische Modernitätsansprü-che waren hier zu versöhnen: die Ausarbeitung eines kritischen Wissens und der Aufbau eines Systems der reinen Vernunft als absolutes Wissen. Ist jedoch, so müssen wir fragen, diese Versöhnung wirklich möglich? I. Der Anfang von Hegels Laufbahn ist mit Schelling verbunden. Schellings Vorschlag geht dahin, den subjektiven Idealismus Fichtes in einem absoluten Idealismus aufzuheben, dessen Ausgangspunkt die Überwindung der Dualität von Subjekt und Objekt im Namen eines absoluten Wissens ist. Indem er die Grundlagen des Fichteschen Systems thematisiert, versucht Schelling, die Erforschung des Nicht-Ichs im Hinblick auf die Konstruktion einer Naturphilosophie auszudehnen. Könnten wir die impliziten Ele-mente in der Fichteschen Vorstellung des Nicht-Ichs entfalten, ließe sich zeigen, in welchem Ausmaß die ursprüngliche Dichotomie Ich/Nicht-Ich nichts weiter als ein relativer, kein absoluter Gegensatz ist. Schelling wird den Beweis zu führen versuchen, dass der Dichotomie von Nicht-Ich und Ich ein gemein-sames Organisationsprinzip zugrunde liegt, das Prinzip der absoluten Identität. In seiner Schrift von 1801 Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie erwähnt Hegel die von seinem ehemaligen Tübinger Kollegen vorgeschlagene Alternative in lobenden Worten. An Stelle der in dem ständig vertagten Ziel der Auflösung des Antagonismus von Ich und Nicht-Ich begründeten Sollensstruktur des Fichteschen Systems entsteht ein Philosophiemodell, das die engen Grenzen des subjektiven Idealismus zu überwinden vermag. Der in Schellings ersten Werken noch bestehende Gegensatz zwischen zwei verschiedenen Wissenschaften, einer Naturphilosophie und einer Transzendentalphilosophie, ist nicht absolut: Natur und Geist sind nur unterschiedliche Aus-drucksweisen einer einzigen Substanz: »Beide Wissenschaften sind ganz allein dadurch möglich, dass in beiden ein und ebendasselbe in den notwendigen Formen seiner Existenz konstruiert wird«. 2 Ausgangs-punkt des absoluten Wissens ist die Identität von Sein und Denken. In diesem Punkt, und auch in Bezug auf die Verweigerung der Sollensstruktur des Fichteschen Idealismus, stimmt Hegel vollständig mit Schelling überein. Die Distanzierung von ihm wird später aus anderen Gründen erfolgen. Der augen-scheinlichste ist Hegels allmählich wachsende Problematisierung des Appells an die intellektuelle An-schauung als Form des Zugangs zum Absoluten. Ein derartiges Verfahren widerspräche dem Wesen ei-nes jeden wissenschaftlichen Vorhabens, dessen Merkmal die Möglichkeit einer intersubjektiven Über-prüfung der Geltung theoretischer Behauptungen ist.