Materialismus in der Lacan'schen Psychoanalyse. (original) (raw)

Lacan und das epistemische Ding

Mit welchem Subjekt arbeitet man in der Psychoanalyse? Das ist leicht gesagt: mit dem Subjekt des Begehrens. Wenn das Begehren unbewusst ist, dann bedeutet dies, dass das Subjekt darüber nicht verfügt, wenigstens nicht auf der Ebene der Erkenntnis. Wie lässt sich also ein Subjekt beschreiben, das so wenig subjektiviert ist, dass es die eigenen Intentionen nicht bewusst auszurichten vermag, und so sehr entfremdet, dass es nicht ist, wo es denkt? Ein nicht-intentionales Subjekt ist für den Epistemologen ein widersprüchlicher Begriff. Deshalb pflegt er der Frage nach dem Subjekt gewöhnlich auszuweichen, indem er sie unter die Frage nach den Grundlagen der Psychoanalyse rubriziert, ob sie existieren, worin sie bestehen und ob sie überhaupt wissenschaftlichen Charakter haben, als gäbe es keine anderen Grundlagen als die wissenschaftlichen. Ich werde den vorherrschenden Weg der Epistemologie aus zwei Gründen -einem theoretischen und einem praktischen -nicht einschlagen. Was die Theorie anbelangt, so interessiert den Analytiker nichts weniger, als die eigene Disziplin von aussen zu begründen, womöglich gar aus der Höhe der offiziellen Wissenschaft. Der praktische Grund hat mehr mit der Tätigkeit der Psychoanalyse selbst zu tun. Es lässt sich leicht feststellen, dass die Nachfrage nach Analyse abgenommen hat, wenn man die heutige Situation mit jener Zeit vergleicht, als die offizielle Übersetzung von Freuds Werken in Italien erschien und Lacan in Mode war. Sich mit den Grundlagen der Psychoanalyse zu beschäftigen hat nicht mehr Sinn, als die Wissenschaftlichkeit der Alchemie beweisen zu wollen. Und selbst wenn dieser Beweis gelingen 35 sollte, würde er niemanden mehr interessieren. Seit die Psychotherapie eine vom staatlichen Gesetz institutionalisierte Praxis ist (Legge dello Stato Italiano 56/1989), richtet sich die Nachfrage nach Behandlung mehrheitlich an Psychotherapeuten, die nicht unbedingt über einen psychoanalytischen Hintergrund verfügen. Bedeutet dies, dass die Psychoanalyse wie die Alchimie am Ende ist? Dass sie tot ist? Nein, antwortet Napolitani. Es bedeutet nur, dass die Psychoanalyse als Disziplin, die sich anderen Wissenschaften verdankt (der Anthropologie, Soziologie, Ethologie, Biologie), an ihr Ende gelangt ist und ein anderes Leben relativer Autonomie und grösserer Konsistenz begonnen hat. 1 Das Schwinden der falschen Nachfragen lässt die Qualität der echten Nachfrage nach Analyse besser erkennen, die es immer gab, auch wenn sie den Kontrollen entging, getarnt als Nachfrage nach Psychotherapie. Sie büsste gegenüber den Nachfragen nach Analyse vor gut einem Jahrhundert, als sich die Hysterika an Freud wandten, nichts von ihrer Qualität ein. Wer heutzutage eine Analyse in Angriff nimmt, weiss sehr wohl, was ihn erwartet: eine lange und teure Behandlung, die nicht darauf ausgerichtet ist, den Patienten an das Umfeld anzupassen, in dem er lebt, sondern seine Denkkategorien, vor allem seine moralischen, zu überprüfen -wenn sie denn gelingt. Kurz, wer im Zeitalter des Internet nach einer Analyse verlangt, erlaubt sich den Luxus, nach der Analyse tout court zu verlangen, nicht nach anderen Ersatztherapien. Und folglich zeigt er sich in der Wahl des Analytikers entsprechend vorsichtig und anspruchsvoll. Die normale institutionelle Garantie, die dem Publikum von den Berufsverbänden und den Psychoanalyseschulen angeboten wird, genügt ihm nicht. Als wüsste er bereits -und er weiss es im Unbewussten wirklich -, dass die Psychoanalyse eine Kunst (oder ein Handwerk) ist, das man nicht 1 Vgl. DIEGO NAPOLITANI: La psicoanalisi ha compiuto il tempo della sua vita, in: "Rivista Italiana di Gruppoanalisi", 2000, XIV, 1. Derrida führt weiter aus: "Si la psychanalyse n'est pas morte, personne ne peut en douter, elle est mortelle, et elle le sait, comme les civilisations dont parlait Valéry." Vgl. JACQUES DERRIDA : Etat d'âme de la psychanalyse. Adresse aux Etats Généraux de la Psychanalyse, Galilée : Paris 2000, S. 27. lehren kann, weil man es jedesmal neu erfinden muss (wobei viele Erfindungen scheitern). Die Hysterika von gestern oder die Anorektika von morgen begnügen sich weder mit allgemeinen therapeutischen Antworten noch mit technisch-professionellen Lösungen prêt-à-porter, die man bloss anzuwenden braucht. Zurecht verlangen sie nach einem Gehör, das massgeschneidert ist für das Subjekt, das erhört werden will. Im veränderten kulturellen Kontext, der -entgegen dem Anschein -der Entwicklung des "reinen" analytischen Diskurses förderlich ist, macht es noch weniger Sinn als früher, sich die Frage nach den Grundlagen oder der Wissenschaftlichkeit der 36 Psychoanalyse zu stellen. Diese Fragedessen sind wir uns mit dem nötigen Abstand einiger Jahrzehnte klarer bewusst -stellt sich als das heraus, was sie immer schon war: ein ideologisches, kein theoretisches Problem. Die Macht interessiert nämlich weder die Begründetheit noch die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse und ebensowenig ihr ethisches Wesen, sondern allein die pragmatische Wirksamkeit ihrer Praktiken, die das Unbehagen in der Kultur kontrollieren sollen, die Psychoanalyse womöglich inbegriffen. Schon Freud wusste vom zweischneidigen Interesse der Macht an der Psychoanalyse und sorgte sich, dass der Anpassungszwang der Therapie die "neue" Wissenschaft der Psychoanalyse nicht "erschlägt" 2 . Wir sehen hier also, wie sich hier das Problem von neuem und diesmal endlich innerhalb der Freudschen Lehre stellt. Welches Verhältnis besteht zwischen der Psychoanalyse und der Wissenschaft, dem Wissen im allgemeinen? Lacan lehrt, dass die moderne Wissenschaft ein Subjekt hat. 3 Und zwar ist das Subjekt der Wissenschaft mit dem Cartesianischen Subjekt identisch, das zum Sein gelangt -auch wenn es sich dabei nur um ein Gedanken-Sein handelt -, indem es sich von allem sinnlichen, idealen und nicht zuletzt wissenschaftlichen Gewissheiten löst, die im Verlaufe der individuellen und kollektiven Entwicklung erworben wurden. Also ist die Frage: Welches Verhältnis besteht zwischen dem Subjekt der Wissenschaft und dem Subjekt des Unbewussten? Wie gelangt man von Descartes zu Freud, womöglich auf dem Umweg über Lacan? Und welche Rolle spielen das phänomenologische und das existenzielle Subjekt auf diesem Schauplatz? Auf diese Fragen werde ich auf eine Weise antworten, die man im antiken Griechenland als idiòtes (privat) bezeichnet hätte, indem ich mich an die Geschichte meiner wissenschaftlichen und psychoanalytischen Bildung halte, die mich dazu gebracht hat, eine von aussen gesehen seltsame, da zugleich Cartesianische und Freudianische Position einzunehmen. Ich werde darüber Rechenschaft ablegen, soweit ich kann, ohne sie in bedingungsloser oder transzendentaler Weise rechtfertigen zu wollen. Es soll mir genügen, wenn sie dazu dient, die Entscheidung desjenigen zu erleichtern, der -ohne sich vielleicht über den Grund im Klaren zu sein -gerade nach einer Analyse verlangt. Die Fruchtbarkeit des analytischen Diskurses, die sich auch an der Nachfrage nach neuen Analysen messen lässt, gilt mehr als die Anpassung an ideale Denkformen oder Sachverhalte, die sogenannte 37 Orthodoxie. Die Fruchtbarkeit, nicht die Anpassungsfähigkeit ist das Wahrheitskriterium des analytischen Diskurses. Freud selbst formulierte in Konstruktionen in der Analyse dieses Kriterium. 4 Es ergänzt gleichsam auf natürliche Weise die Cartesianischen methodologischen Kriterien, indem es die Forderung nach einer erschöpfenden Untersuchung ausdehnt. Freud genügt es nicht, in Cartesianischer Manier alle möglichen Fälle zu analysieren. Wie auf der Couch muss der Patient nicht nur gestehen, was er weiss, sondern auch und vor allem, was er nicht weiss, was 2 "Ich will nur verhütet wissen, dass die Therapie die Wissenschaft erschlägt". SIGMUND FREUD, Nachwort zur "Die Frage der Laienanalyse", in Sigmund Freud Gesammelte Werke, Bd. XIV, Frankfurt a.M. 1999, S. 291. 3 Ich teile nicht die Ansicht mancher Lacan-Schüler wie etwa Jacques-Alain Miller (vgl. JACQUES-ALAIN MILLER: Eclairissement, in: JACQUES LACAN: Ecrits, Seuil: Paris 1966, S. 894), die den Meister sagen lassen, die Wissenschaft verwerfe das Subjekt ("forclusion"). Angesichts der engen Beziehungen zwischen dem Subjekt der Wissenschaft und dem Subjekt des Unbewussten würde die Verwerfung des ersten die Ausschliessung des zweiten mit sich bringen. 4 Die richtige Interpretation lässt unbewusstes Material zum Vorschein kommen, behauptet Freud in Konstruktionen in der Analyse, wohingegen die falsche wirkungslos bleibe. Die Lacansche Theorie der Interpretation als Gleiten von Signifikant zu Signifikant, das bei keinem Signifikat zum Stillstand kommt, rechtfertigt die Auffassung, die subjektive Wahrheit sei nichts anderes als die Fruchtbarkeit.

Materialismus, Kritische Theorie nach Marx

Adorno sieht in der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie die fortgeschrittenste und triftigste ökonomische Theorie-unverzichtbar als Fundament für jede Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft. Denn nach wie vor "wird Herrschaft über Menschen ausgeübt durch den ökonomischen Prozeß hindurch"(SoI 8.360). W ie zu Marx' Zeiten "ist die Gesellschaft Kapitalismus in ihren Produktions ver hältnissen. Stets noch sind die Menschen, was sie nach der Marxschen Analyse um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Anhängsel an die Maschinerie, nicht mehr bloß buchstäblich die Arbeiter , welche nach der Beschaf fenheit der Maschinen sich einzurichten haben, die sie bedienen, sondern weit darüber hinaus metaphorisch, bis in ihre intimsten Regungen hinein genötigt, dem Gesellschaftsmechanismus als Rollenträger sich einzuordnen und ohne Reservat nach ihm sich zu modeln. Produziert wird heute wie ehedem um des Profits willen."(SoI 8.361) Solcherart Produzieren unterliegt Struktur gesetzen, nämlich "W ertgesetz, Gesetz der Akkumulation, Zusammenbruchsgesetz."(SoI 8.356) "Eine dialektische Theorie der Gesellschaft geht auf Struktur gesetze, welche die Fakten bedingen, in ihnen sich manifestieren und von ihnen modifiziert werden."(SoI 8.356) Solche Struktur gesetze, die ohne den Begrif f des W erts und des Mehrwerts nicht auskommen, formulieren die Erkenntnis, daß die Produktion von Mehrwert Antrieb und Zweck für das Produzieren in der Gesellschaft insgesamt ist. Alles in dieser Gesellschaft-bis hin zu deren sublimsten Sphären-wird durch das die Epoche charakterisierende soziale V erhältnis geprägt, daß lebendige Arbeit in eine W are verwandelt wurde und diese W are vom Kapital angekauft und benutzt wird, um Mehrwert zu produzieren. Mithin ist der Klassengegensatz fundamental, die Gesellschaft in ihrem W esen (oder Strukturkern) antagonistisch und die Theorie der Gesellschaft, will sie ihren Gegenstand nicht verfehlen, dialektisch.

Materialismus und Kritik

Königshäusen und Neumann, 2019

„Der Materialismus“, schreibt Alfred Schmidt über seinen Lehrer Theodor W. Adorno, „ist ein Aspekt seines Denkens, freilich ein solcher, ohne dessen Verständnis alle anderen Aspekte nicht wirklich begriffen werden“. Von seiner Variante des Materialismus behauptet man oft, dass Adorno ihn kritisch, nicht dogmatisch, nicht mechanisch zu gestalten sucht. Doch wie dies konkret zu leisten ist, welche spezifische Beschaffenheit sein Materialismusbegriff innerhalb der Denktradition des Materialismus erhält, wie das materialistische Motiv mit dem ontologiekritischen und antisystematischen Programm zu vereinen ist und welche Potentiale er für den heutigen Materialismus aufweist – diese dürften hingegen noch als offene, kaum richtig aufgeworfene Fragen gelten. Ein Indiz dafür ist wohl die Tatsache, dass eine monographische Studie über diesen zentralen Aspekt seines Denkens, fünfzig Jahre nach seinem Tod, noch nicht vorliegt. Dieses Buch untersucht ihn kritisch-rekonstruktiv im Zusammenhang von Adornos Spätwerk.

Der aleatorische Materialismus

Synthesis Philosophica, 2006

In einer Zeitspanne von vier Jahren, von 1982Jahren, von bis 1986 Louis Althusser eine Reihe kurzer Abhandlungen, die erst posthum veröffentlicht wurden. Kurze Abhandlungen sind für das Werk Althussers typisch, viel mehr als jede andere Art schriftlichen Schaffens, doch die Besonderheit seiner letzten Abhandlungen liegt weder in ihrer Form noch in der Methode, sie liegt vielmehr in einem radikal neuen Zugang zum Politischen. In den sechziger Jahren besteht Althusser auf einem Standpunkt nach welchem der dialektische Materialismus den philosophischen Kern des Marxismus darstellt und der historische Materialismus seiner Wissenschaft entspricht. In den achtziger Jahren verändert er diesen Standpunkt zugunsten einer "Philosophie der Begegnung", die ein nicht-teleologisches Prinzip des Materialismus seiner Ansicht nach viel genauer widerspiegelt als ein für ihn inzwischen logozentrisch und idealistisch gewordener dialektischer Materialismus. Jener wird gänzlich verworfen, und an seine Stelle tritt ein neuer Begriff: der aleatorische Materialismus. Ein Materialismus der Kontingenz und der Leere, der eine Vorrangigkeit des Sinns über die Erscheinungen radikal ablehnt. Dieser Text verfolgt diese Wende in seinem Verständnis der Philosophie und vor allem in ihrem Verhältnis zu Politik und Ideologie. Schlüsselwörter Louis Althusser, aleatorischer Materialismus, Kontingenz, Philosophie, Politik, Ideologie 1 Aus dieser Passage wird in der Literatur vor allem ihr Abschlusssatz gerne zitiert. Ich führe die Passage komplett an, da sie eine der wichtigsten Referenzen für das Verständnis "Der Akt der Abstraktion, der aus konkreten Individuen ihr reines Wesen herauslösen würde, ist ein ideologischer Mythos." 3 116 SYNTHESIS PHILOSOPHICA D. Larise, Der aleatorische Materialismus 41 (1/2006) pp. (115-137) 5 L. Althusser, Für Marx, S. 65. SYNTHESIS PHILOSOPHICA D. Larise, Der aleatorische Materialismus 41 (1/2006) pp. (115-137) 28 L. Althusser, Lenin und die Philosophie, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 40. 29 L. Althusser, PSPW -These 18, S. 31. Die These 19 aus demselben Abschnitt definiert die praktischen Ideologien.

"Materialität"

T. Meier, M. Ott, R. Sauer (eds.) Materiale Textkulturen: Konzepte-Materialien-Praktiken, 33–46. Berlin: De Gruyter., 2015