Einleitung: Die Postdemokratie-Debatte (original) (raw)

Auf dem Weg zur Postdemokratie

Leviathan, 2005

Wir kennen die Postmoderne, den Postmaterialismus, den Poststrukturalismus, den Postfordismus und vielleicht auch den Postfeminismus. All diesen Begriffen ist gemeinsam, dass sie etwas Neues bezeichnen sollen, welches zwar ohne ihren Vorläufer nicht existieren könnte und ihn in gewisser Weise immer noch verkörpert, sich vom Vergangenen jedoch gleichzeitig essentiell unterscheidet. Es ist also die doppelt paradoxe Form des Ungleichzeitigen im Gleichzeitigen wie des Gleichzeitigen im Ungleichzeitigen, die diesen Begriffen innewohnt. Sie bezeichnen sowohl eine temporale Struktur des "nicht mehr" und des "noch nicht" wie die eines "sowohl als auch". So beschreibt der Begriff des "Postfordismus" einerseits eine Phase des Wandels zu einem neuen Akkumulationsregime, für das man noch keinen Namen gefunden hat, andererseits aber auch das Nebeneinander von alten, fordistischen und von neuen Elementen, die zusammengenommen das postfordistische Regime ausmachen. Die These, die ich im Folgenden vertrete, lautet, dass wir mit Blick auf die etablierten westlichen Demokratien momentan guten Grund haben, der hier umrissenen Begriffstrategie zu folgen und von "postdemokratischen" Verhältnissen zu sprechen. Anlass dafür geben eine Reihe von beobachtbaren Funktionsstörungen demokratischer Verfahren, wie sie in den Begriffen "Politikverdrossenheit", "Postparlamentarismus" und "Politainment" sowie in der jüngsten Konjunktur des Begriffs der "Postdemokratie" selbst zum Ausdruck kommen. So hat Colin Crouch ein schmales Bändchen mit dem Titel "Post-Democracy" vorgelegt, in dem er sich mit den Auswirkungen des globalen Kapitalismus auf die sozialen und kulturellen Voraussetzungen der Demokratie beschäftigt. 1 Der nämliche Begriff findet weiterhin bei Sheldon Wolin 2 und Jacques Rancière 3 Verwendung. Wolin stellt im Anschluss an Tocqueville und mit Blick auf die politische Kultur der Vereinigten Staaten die demokratiezersetzenden Wirkungen des Konsumismus dar. Und für Rancière befinden wir uns in einer Ära, in der das politische Handeln des Demos durch die "Herrschaft der Meinungsbefragung" eingedämmt wird. Für alle diese Autoren gehört die Demokra

Postdemokratie. Tatsächlich?

2013

Die Debatte, die sich um das von Colin Crouch prominent in die Diskussion gebrachte Konzept der Postdemokratie rankt, ist ebenso intensiv wie kontrovers. In der Subsumierung verschiedener Phänomene unter dem Begriff der Postdemokratie ergeben sich relevante Diskussionsimpulse, aber auch Inkohärenzen. Der Beitrag nimmt sich der Ambivalenz dieser Debatte an, indem zentrale Fragen und Probleme des Konzepts aufgegriffen und kritisch beleuchtet werden. Ausgehend von Crouchs Diagnose einer Degeneration von Demokratien, steht die Frage im Mittelpunkt, wie demokratisch moderne Demokratien noch sind und überhaupt sein können. Aus der Perspektive der empirischen Demokratieforschung wird ein Abgleich von demokratischen Idealen, die sich in spezifischen Kriterien ausdrücken, und der Realität moderner Gesellschaften vorgenommen. Es wird argumentiert, dass sich westliche Demokratien tatsächlich im Prozess der Postdemokratisierung befinden, dass hierfür jedoch auch funktionale Ursachen mitverantwo...

Zwischen „Ende der Geschichte“ und „Postdemokratie“

Politik und Religion, 2017

Zum Einstieg-Der Clash of Civilizations als fehlendes Bindeglied "As people defi ne their identity in ethnic and religious terms, they are likely to see an ‚us' and ‚them' relation existing between themselves and people of different ethnicity and religion." (Huntington 1993, S. 29) Wenn-wie mit dem von Francis Fukuyama lancierten End of History sowie der Postdemocracy von Colin Crouch-die Rede auf zwei der einfl ussreichsten Konzepte der letzten Jahrzehnte kommt, ist man gut beraten, mit dem fehlenden Dritten zu beginnen. Samuel Huntington sah in den 1990ern Jahren in Der Kampf der Kulturen das Ende einer alten und die Geburt einer neuen Ära: Die Moderne wird sich in Zukunft nicht länger im Rhythmus von politischen und ökonomischen Krisen entwickeln. Ein neuartiger Konfl ikt beschreitet die weltpolitische Szene-der Konfl ikt zwischen dem christlich-geprägten Westen und dem Rest der Welt (vgl. Huntington 1993, S. 39ff.). Huntingtons These wird vom Argument getragen, dass Kulturen Identitäten auf der Grundlage von Geschichte, Sprache, Tradition und

Das demokratische Begehren. Politische Leidenschaften in der Postdemokratie

Die von Colin Crouch und Jacques Rancière als "Postdemokratie" gekennzeichnete Situation verstehe ich nicht als bloße Kennzeichnung der apolitischen Jetztzeit, die durch den Neoliberalismus dominiert wird, oder als Epochenbezeichnung, sondern als ein allgemeines Nachlassen des demokratischen Begehrens und einen Verlust von Leidenschaften. Ausgehend von Albert O. Hirschmans Untersuchungen zur neuzeitlichen Transformation von Leidenschaften in Interessen, die einem bürgerlichen Besitzindividualismus, einer kalkulierenden Rationalität und der kapitalistischen Ökonomie entsprechen, wodurch das Politische durch den Markt ersetzt wird, mache ich – in Auseinandersetzung mit Freud, Girard, Lacan und Spinoza – ein Verständnis von Leidenschaften und Affekten stark, die für ein demokratisches Begehren stehen. Denn Demokratie verkörpert zuerst ein Begehren nach einer sich selbst instituierenden Gemeinschaft Freier und Gleicher und beschränkt sich nicht auf ein historisch gewordenes Gefüge von Institutionen und Praktiken oder einen normativen Horizont universeller Werte. Leidenschaften und Affekte dürfen nicht dem Rechtspopulismus und Fundamentalismus überlassen werden, sondern sind zentrales Moment einer radikalen Demokratie, ohne die sie zur Postdemokratie wird.

I Einleitung – Emanzipation in der Debatte

2012

Gone is the German-Jewish "Tisch", gone are the German-Jewish "Tischreden", two traditions that for a long beautiful moment came together. Gone is the table on which Mendelssohn and Lavater played chess, the table where Rahel Varnhagen drank wine with poets and philosophers […]. Ah, that mixed company […].