Die Krise als Krankheit. Medizinische Metaphern in aktuellen Darstellungen von Finanzkrisen (original) (raw)

"Krise" und "Pathogenese" in Reinhart Kosellecks Diagnose über die moderne Welt, «Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte», II, 2013, 1, pp. 38-48.

Das Thema der Entstehung der modernen Welt steht im Zentrum des Interesses Reinhart Kosellecks, sowohl in Bezug auf die historische Semantik der politischen Begriffe, als auch bezüglich der sozialen Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen. 1 Kosellecks Begriffsgeschichte geht es darum, den »Umwandlungsprozess zur Moderne« zu zeigen, wie er sich in der Verwendung der politischen Sprache ereignet. 2 Mit der Theorie historischer Zeiten entwickelt Koselleck eine eigene Theorie der Entstehung der Neuzeit, die die Absicht hat, die spezifischen und charakteristischen Merkmale der modernen Welt und ihrer Zeitlichkeit durch die Darstellung der Beziehung zwischen den Erfahrungsräumen und den Erwartungen zu beschreiben. 3 In seiner Doktorarbeit hat Koselleck die Diagnose über den Beginn der modernen Welt auf die Beziehung zwischen aufklärerischer Kritik und politischer Krise zurückgeführt; 4 1959 wurde die Doktorarbeit verbessert und veröffentlicht. Nun wird die Genese der modernen Welt zur »Pathogenese der bürgerlichen Welt«, also vor allem im Sinne einer Krankheit verstanden: die Krise der Moderne entspricht also einer Pathologie. 5 Der Horizont des strukturellen Verhältnisses zwischen der Neuzeit und der Krise bleibt auch in den folgenden Schriften das Thema Kosellecks, wenn er sich mit der

Ick glob, ick krieg ne Krise" - Alltagsvorstellungen und individualisierte professionelle Vorstellungen von Krise

2004

K risen sind im menschlichen Leben allgegenwärtig-zumindest wird dies heute so empfunden. Das Wort "Krise" wird im Alltag und in den Medien in unterschiedlichen Zusammenhängen so inflationär verwendet, dass sich kaum noch eine präzise Bedeutung angeben lässt. Das Spektrum reicht von politischen, ökonomischen, sozialen Krisen zu den verschiedenartigsten privaten Krisen bis zum typischen Berliner Ausspruch "Ick glob, ick krieg ne Krise". Gleichzeitig bekommen Hilfen für Menschen in Krisen eine zunehmend größere Bedeutung. Fachleute und Politiker hoffen darauf, mit Hilfe von ganz unterschiedlichen institutionellen Angeboten der Krisenprävention die Entwicklung von schwereren psychischen Störungen verhindern zu können. Diese institutionellen Angebote-von der Telefonseelsorge über Krisendienste mit unterschiedlichen Angeboten bis zu Krisenstationen-werden von Menschen genutzt, die über ein breites Spektrum von Beschwerden klagen. Gleichzeitig ist bekannt, dass viele Menschen mit ganz ähnlichen Beschwerden solche Angebote nicht annehmen. Hierfür gibt es eine Vielzahl von möglichen Gründen. Hier sollen einige von ihnen aufgegriffen und mit Hilfe der folgenden Fragen näher untersucht werden: Was verstehen Menschen im Alltag und professionelle Helfer unter Krise? Meinen sie damit etwas Ähnliches? Sind die Vorstellungen so weit voneinander entfernt, dass es notwendigerweise zu Missverständnissen kommen muss? In welchen Aspekten decken sie sich, wo unterscheiden sie sich? Wir gehen von der Annahme aus, dass die Vorstellung von "Krise" zumindest an zwei Punkten das gegenseitige Verhältnis von Alltagsmenschen und professionellen Helfern prägt. Sie beeinflussen erstens, ob jemand überhaupt in eine Kriseneinrichtung kommt, und zweitens ob und wie schnell ein gemeinsames Verständnis zwischen Helfer und Hilfesuchendem hergestellt werden kann. Auf die schnelle Herstellung eines solchen gemeinsamen Verständnisses kommt es gerade bei der Krisenintervention an, bei der häufig nur eine einzige Intervention stattfinden kann. Treffen Beteiligte mit sehr unterschiedlichen Konzepten aufeinander, so muss unter Umständen viel von der knappen Zeit dazu benutzt werden, ein gemeinsames Verständnis auszuhandeln. In diesem Aufsatz soll daher versucht werden, Alltagskonzepte und Konzepte von Professionellen über Krisen und Krisenursachen in Beziehung zueinander zu setzen. Die Struktur der unterschiedlichen Vorstellungen soll re

Eine Antwort auf die «Krise der Medizin»? Die Moderne Konstitutionslehre im Krisendiskurs 1925 bis 1933

Gesnerus

Discussing the alleged «crisis of medicine» (ca. 1925–33) German physicians addressed the underlying mindset of medical theory and practice. Identifi ed as «scientifi c crisis», they called the scientifi c epistemology of medicine into question. Since 1911 modern constitutional medicine had offered concepts potentially useful to overcome this «crisis». Besides similar topics the two discussions shared prominent voices, presenting their ideas for better medicine in both discourses. However, this paper shows the minor role constitutional medicine actually played in the «crisis» discussion. It was rarely put forward as a solution to the supposed «crisis» and is conspicuously often discovered in discussions of historical background. Far more often, concepts designed to overcome constitutional medicine are invoked as a potential crisis solution, fi rst and foremost the so-called «constitutional therapy» fathered by Vienna gynaecologist Bernhard Aschner which evokes pre-modern humoral pat...

Jenseits von Angebot und Nachfrage: Was die Literatur über die Finanzkrise weiß

2013

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die Schriftfassung der Siebten Wilhelm-Ropke-Vorlesung, die der Ressortleiter Wirtschaft sowie Geld & Mehr der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Dr. Rainer Hank, am 21. Februar 2013 in der Thuringer Aufbaubank in Erfurt gehalten hat. Die jahrlich zum Todestag des grosen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlers stattfindende Veranstaltung des Wilhelm-Ropke-Instituts e.V. soll dazu beitragen, Ropkes Wirken als Wissenschaftler, Politikberater und Publizist in Erinnerung zu rufen und seine Ideen auf aktuelle Probleme anzuwenden. Anhand der Analyse verschiedener Klassiker der europaischen Literaturgeschichte wird deutlich: Goethe, Shakespeare & Co. wissen zwar nichts von der Eurokrise. Aber vom Thema Schuld & Schulden, der Tiefendimension unserer Finanzkrise seit dem Jahr 2008, davon verstehen sie etwas. Lange hat sich niemand um solche Themen gekummert. Jetzt hat sich gezeigt, dass Schulden, private und offentliche, eine problematische Angeleg...

Investition oder Glücksspiel? Psychoanalytische Assoziationen zur Finanzkrise

Psychotherapie Forum, 2010

One main explanation concept of the actual crisis is based on the consideration of the ambivalent fantasies regarding the interplay of financial markets, motives and actual behaviour of the investors and the thrill. The author discusses this under the special perspective of the game theory. He distinguishes this from other modalities of Dionysian limit experiences. The narcissism theory helps to explain the important psychological matrix and the consequences of the financial crisis. Eine zentrale Erklärungsgrundlage der aktuellen Krise bildet die Berücksichtigung der ambivalenten Fantasiebeziehungen hinsichtlich des Zusammenspiels von Finanzmarkt, Motiven und Verhalten von Anlegern und der Angstlust. Der Autor beleuchtet dies unter der besonderen Berücksichtigung der Spieltheorie-Perspektive und unterscheidet die aktuelle Gier von anderen rauschhaften Grenzerfahrungen. Die Narzissmustheorie erklärt zentrale psychologische Hintergründe und Folgen der Finanzkrise.

Die Finanzkrise und ihre Folgen: Manifestationen und Repräsentationen der Krise

Die Finanzkrise 2008 im Unbewussten, 2019

auf die psychische Gesundheiteine exemplarische Darstellung "Da sich Produktions-und Machtverhältnisse ständig verändern, von Menschen gemacht und von ihnen im Prinzip veränderbar sind, dürfen sie nicht als unveränderbar beschrieben werden" (Parin, 1975, S. 524). Die WHO (2011) hat darauf hingewiesen, dass die Gefahr von psychischen Krankheiten infolge der Wirtschaftskrise, die in vielen europäischen Ländern mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, einer Zunahme der in Armut lebenden Menschen und Kürzungen von staatlichen Ausgaben einherging, steigt. Von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, führt eine erhöhte Zahl an Erkrankungen volkswirtschaftlich zu Produktionsausfällen, die auf durchschnittlich drei bis vier Prozent des Bruttosozialprodukts in der Europäischen Union geschätzt werden (vgl. World Health Organization, 2011, S. 1). Im Bericht der WHO wird darauf verwiesen, dass bestimmte Maßnahmen, die von den Regierungen gesetzt werden, das Ausmaß der Schäden für die Bevölkerung und die Volkswirtschaft mildern können; dazu wird am Ende des Kapitels mehr zu lesen sein. Überblickt man die große Menge an Forschungsdaten zu den Auswirkungen der Wirtschaftskrise in den europäischen Ländern, so stößt man bei der Komplexität der Wirkungszusammenhänge 104 auf Risikofaktoren, die in den Fokus der Analyse gerückt werden: Dazu gehören die Arbeitslosenrate, Verarmung, prekäre Arbeitsverhältnisse, fehlende soziale Eingebundenheit und die Mortalitätsrate, im Speziellen die Suizidrate und der Alkohol-und Drogenkonsum (vgl. Martin-104 "Firstly, in a complex phenomenon like this, quality study designs such as RCTs are very difficult to conceive and implement. Similarly, this complexity means that with even the most stringent analyses, assigning causality to association is challenging. Also, heterogeneity of outcomes among studies is an expected methodological hurdle in such a multifaceted issue" (Christodoulou, 2017, S. 91). Van Hal spricht von mehreren methodologischen Problemen; das erste besteht darin, den Beginn der Finanzkrise zu definieren, das zweite ist, Maßstäbe für die psychische Gesundheit festzulegen (vgl. Van Hal, 2015, S. 18 f.).

Metaphern in Zeiten der Wirtschaftskrise: Eine Studie über die Übersetzung der Jahresberichte des Internationalen Währungsfonds

Metaphern in Zeiten der Wirtschaftskrise: Eine Studie über die Übersetzung der Jahresberichte des Internationalen Währungsfonds, 2018

The reports of official economic institutions were especially relevant for society during the world economic crisis because they conveyed reliable information about the financial situation. These reports were written in English and contained metaphors that must be translated into several languages. This paper investigates the typology of metaphors in economic reports and the need to optimize the current translation strategies. For this, a parallel corpus composed by texts from the IMF will be used to compare the English source language text with their translations into Spanish and German.

Krise als Dauerzustand. Die Corona-Pandemie in der Geschichte der Gegenwart

Neue Politische Literatur, 2022

Als empfundener gesellschaftlicher Ausnahmezustand provozierte die Corona-Pandemie frühzeitig eine Vielzahl zeitgenössischer Deutungen. Der Essay setzt sich mit zwei geschichtswissenschaftlichen Abrissen der Pandemie und der gesellschaftlichen Reaktionen darauf auseinander. Neben einem Vergleich beider Bücher fragt der Beitrag auch, wie die Autoren unser Verständnis der Zeit zwischen 2020 und 2021 erhellen, und diskutiert die Herausforderungen und Gefahren einer Krisengeschichtsschreibung. Krise, so argumentiert der Essay, ist mittlerweile fast immer-eine Tatsache, an der die Geschichtswissenschaft nicht ganz unschuldig ist. So produzieren die narrativen Konventionen der Geschichtswissenschaften das Überraschungsmoment, welches das Gefühl des Ausnahmezustands mit hervorbringt. Der Beitrag skizziert mögliche Gegenstrategien, die den Blick auf gegenwärtige und künftige Herausforderungen schärfen könnten. The essay engages with two historiographical outlines of the COVID-19 pandemic. After a portray and comparison of the two books, the essay explores how they may enhance our understanding of the time between 2020 and 2021 and discusses the challenges and risks of a crisis historiography. The notion of crisis, the essay claims, has become ubiquitous—a development history writing has played a role in. As I argue, the narrative conventions of historical scholarship tend to generate a sense of rupture and discontinuity that has often been perceived as crisis. The article outlines possible counterstrategies that could sharpen our understanding of present and future challenges.