Jenseits von Angebot und Nachfrage: Was die Literatur über die Finanzkrise weiß (original) (raw)
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Gegenwartsbezüge in der Krise. Über die Ausrichtung der Literatur am Nützlichkeitsparadigma
Sven Bordach / Carsten Rommel / Elisabeth Tilmann / Jana Vijayakumaran / Jian Xie [Hrsg.]: Zwischen Halbwertszeit und Überzeitlichkeit. Stationen einer Wertungsgeschichte literarischer Gegenwartsbezüge, 2021
Im Frühjahr 2020 wurde in den deutschen Feuilletons verhandelt, wie mit dem Sprechen über das Coronavirus SARS-CoV-2 und der Krankheit COVID-19 umzugehen sei. Der Teil der Debatte, in welchem dem Pandemiediskurs die Literatur zur Seite oder entgegengestellt wurde, ist Gegenstand dieses Aufsatzes. Anhand einer Analyse des Sprechens über Pandemie und Literatur wird ein neues Paradigma der Wertung literarischer Gegenwartsbezüge in der Krise sichtbar, das der Umstellung von Literaturproduktion und -kritik auf Pandemiewirtschaft folgte. Die Hypothese, die ich dabei überprüfe, ist, dass der Wertungsdiskurs nahezu vollständig im Krisendiskurs aufgeht und die Literatur als ›Tool des Krisenmanagements‹ am Nützlichkeitsparadigma ausgerichtet wird.
“‘Geld, Geld. Wer kein Geld hat:’ Ökonomien des Mangels und Dramatik der Knappheit im Vormärz.”
2013
Die Bühnen des Vormärz stehen vor der Schwierigkeit, dass die Prozesse der Ökonomisierung, die im 19. Jahrhundert sowohl die gesellschaftliche Organisation wie auch die maßgeblichen sozialen Praktiken auf fundamentale Weise neu gestalten, sich im Grundsatz der literarischen Darstellung entziehen. Insbesondere der sichtbarste Ausdruck dieser Vorgänge, die Ubiquität und die ungleiche Distribution des Geldes, ist als solcher weder beobachtbar noch bühnenfähig. Das Interesse dieser Studie galt den dramatischen Strategien, mittels derer der Mangel an Ressourcen und die abstrakte Undurchschaubarkeit des Geldkreislaufs als etwas im Grunde Undarstellbares, dennoch auf die Bühne gebracht wird. Die Dramatik reagiert, so die These, im Rahmen ihres Repertoires mit einer Verknappung, wenn sie mit der Ökonomie des Mangels konfrontiert wird. Dabei lassen sich mit dem Wiener Volksstück auf der einen Seite sowie mit Vorläufern des sozialen Dramas auf der anderen eine heitere und eine tragische Variante unterscheiden. Zu Anfang der 1830er Jahre wird in Wien der übernatürliche Apparat der Zauberspiele zurückgenommen und gleichzeitig mit der Zirkulation von Geld und der Verteilung von Gütern verbunden. Ferdinand Raimunds Der Verschwender (1834) bietet eine geschlossene Konstruktion, innerhalb derer soziale und monetäre Volatilität erst dann stabilisiert werden kann, wenn Produktivität und Erwerbsarbeit Einzug gehalten haben. Johann Nestroys Zu ebener Erde und erster Stock (1835) ist in gewisser Weise eine Spiegelung von Raimunds Wechselverhältnissen, bei der die Parteien eines Mietshauses die Wohnungen tauschen und das Geld die Funktion des ‚Deus ex machina‘ übernimmt. Wiederum bietet das Haus einen gleichbleibenden Bezugsrahmen, in dem die Positionen konstant gehalten werden, wenngleich die Besetzungen wechseln. Weiter geht der frühere Lumpazivagabundus (1833), der die unfassbaren Ströme der Geldzirkulation mit den sichtbaren Wanderungsbewegungen, hier denen dreier Handwerksgesellen, parallel führt und Nicht-Sesshaftigkeit als unverbesserlichen Charakterfehler vorstellt, wobei Bedarf und Nützlichkeit auf geradezu groteske Weise entkoppelt werden. Während im Wiener Volksstück somit der Versuch stattfindet, die Expansions- und Arbeitsökonomie des 19. Jahrhunderts mit der von Adam Smith entworfene Balance- und Ausgleichsökonomie zu versöhnen, geraten auf der Schwelle zwischen bürgerlichem Trauerspiel und sozialem Drama andere Ordnungen des Ökonomischen in den Blick. Sigismund Wieses Einakter, Die Bettler (1837), lässt diejenigen, die keinen Zugang zum allgemeinen Tauschgeschehen haben, ihren Anteil einfordern. Unter Bemühung zahlreicher biblischer Anspielungen und Zitate aus dem bürgerlichen Drama sowie dem Schicksalsdrama wird der Untergang einer Familie dargestellt, deren Mitglieder weder Aufenthalt noch Arbeit finden können. Verwiesen auf die Ökonomie des Abjekten, die mit dem Vorlieb nehmen muss, was bleibt, wenn die Güter verteilt sind, enden sie Anstalten der Ausgeschlossenen. In Büchners Woyzeck (1836/37) ist das Missverhältnis von unausgesetzter Arbeit und drückender Armut in jeder Szene gegenwärtig. In diesem radikal-innovativen Drama zieht der Mangel eine Beschleunigung der Zentralfigur nach sich, die so lange in Zeitnot von einer Tätigkeit zur nächsten hetzt, bis sie zusammenbricht und eine Gewalttat begeht. Mit dem Blut, das dann fließt und an die Stelle des Geldes tritt, kollabiert die Ökonomie des bloßen Lebens. Die hier vorgestellte Reihe endet mit Friedrich Hebbel. Maria Magdalena (1844) ließe sich als Versuch begreifen, der Ökonomie des Mangels einen hohen Ton abzugewinnen, und damit als Gegenentwurf einer Dramatik der Knappheit.
In: Nicole Mattern und Timo Rouget (Hg.): Der große Crash. Wirtschaftskrisen in Literatur und Film, 2016
Den Auftakt zu Kathrin Rögglas Sammlung kürzerer Erzählungen mit dem Titel die alarmbereiten (2010) bildet eine Endlosschleife, die aus einer alternierenden Aneinanderreihung einer (Coolness-) Floskel und Befürchtungen besteht: mal sehen, ob die wälder wieder brennen, mal sehen, ob starke hitze uns entgegenschlagt. mal sehen, ob der rauch die ti~re aus den büschen treibt, deren namen wir nicht kennen, mal sehen, ob das eine stille nach sich zieht. mal sehen, ob der regen einsetzt, den ein schwarzer wind ins land drückt, mal sehen, ob sich wassermassen gegen brücken stemmen oder dämme längst gebrochen sind. 1 Diese ersten Sätze des Eröffnungstextes die zuseher führen unmittelbar in das thematische Zentrum des Erzählbandes und machen die Problematik sichtbar, welche dem Titel des Bandes zugrunde liegt. Alarmbereite antizipieren einen Alarm und sind bereit, nicht nur auf einen Alarm zu reagieren, sondern auch einen auszulösen und damit allenfalls ein Ereignis zu induzieren. Man ist insofern alarmiert, als man einen Alarm erwartet, jedoch nicht, weil man das Ereignis antizipiert, das einen Alarm auslösen wird. Kathrin Röggla setzt in ihrem Erzählband die alarmbereiten bei Katastrophen-Diskursen an, um sich dem medial generierten Phänomen ,Katastrophe' und dem Kontext dieser Genese widmen zu können. Die Texte enthalten Katastrophen-Diskurse und -Narrative, die Röggla zu einer kontrast-und konfliktreichen Textur verwoben hat. Obwohl die einzelnen Texte durch Regieanweisungen oder kurze Einleitungen eröffnet und darin mitunter genaue Orts-und Zeitangaben genannt werden, können den Diskursen keine konkreten lebensweltlichen Katastrophen zugeordnet werden. 2 Die Texte des Bandes machen durch die einzelnen Katastrophen-Diskurse hindurch selbstreflexiv die Gemeinsamkeit solcher Dis-Kathrin Röggla: die zuseher. In: Dies.: die alarmbereiten. Frankfurt a.M.: Fischer 2010, S. 7-27, hier S. 7. Die Kursivierungen folgen dem Original. 2
Terrorismus, Crash und Krise in der Literatur
transcript Verlag eBooks, 2023
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Kredit und Bankrott in der deutschsprachigen Literatur
2020
Eine Geschichte der Schulden ist […] zwangsläufig eine Geschichte des Geldes", schreibt David Graeber und betont damit einen Primat von Kredit und Schulden vor Geld und Tauschhandel. 1 Er bezieht sich dabei auf die Kredittheorie von Alfred Mitchell-Innes (1914), die besagt, dass die einzige Funktion von Geld darin besteht, Schulden zu quantifizieren: "measure in terms of credit and debt". 2 Die folgenden Ausführungen zur (Literatur-)Geschichte des Kredits und der Schulden sowie des Bankrotts sind dementsprechend auch als (systematische, nicht historische) Vorgeschichte des Geldes in der Neuzeit zu lesen.
Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise Ein Versuch
In: Russell West-Pavlov / Anya Heise-von der Lippe (Hr.): Literaturwissenschaften in der Krise. Zur Rolle und Relevanz literarischer Praktiken in globalen Krisenzeiten, 2018
Seite 1 von 10 Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise Ein Versuch I-Tsun Wan "Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben".
Nach der Finanzkrise wurden hohe Erwartungen in die Zivilgesellschaft gesetzt, die im Gegensatz zu vielen Expert*innen, vor der Finanzkrise gewarnt hatte. Verlierer*innen des Systems würden ihre Benachteiligung wahrnehmen und dagegen angehen, wirtschaftstheoretische Paradigmen wie der Glaube an das Gleichgewicht des Marktes seien erschüttert und ein gesamtgesellschaftlicher Lerneffekt würde Korrekturen des Systems herbeiführen – so die Annahme. Mittlerweile bestätigen mehr wissenschaftliche Arbeiten Positionen der kritischen Zivilgesellschaft, etwa bezogen auf Finanzmarktkontrolle oder Ungleichheit als Krisentreiber. Soziale Bewegungen, die sich für die Behebung der Mängel einsetzen, haben jedoch wenig Zulauf, während nationalistische und wirtschaftsliberale Kräfte mobilisieren. Personen, die sich als Gegner*innen des Systems im ‘neu’-rechten Lager positionieren – als AfD-nahe Intellektuelle, Sprecher*innen und Blogger*innen – scheinen ihre Präsenz auszubauen. Es kann angenommen werden, dass politische Akteur*innen aus Deutungen der Finanzkrise Rechtfertigungen ableiten. Dieser Beitrag untersucht, ob der skizzierte Eindruck zutrifft: Welche Akteur*innen erklären die Finanzkrise in welcher Art? Welche Rechtfertigungen und Schlüsse leiten sie aus ihrer Interpretation ab? Er analysiert 1.) welche Arten von Webseiten auf der Suchmaschine Google unter dem Stichwort Finanzkrise in Deutschland und Österreich gelistet sind, welche Organisationen und Arten von Intellektuellen die Krise erklären und 2.) welche Inhalte und Akteur*innen auf der Videoplattform YouTube unter dem Stichwort vorkommen. Welche Krisendiagnosen kommen vor und welche Handlungsanweisungen werden abgeleitet? Die Ergebnisse zeigen, dass bei der Suchmaschinenabfrage klassische Medien wie Tages- und Wochenpresse, Nachrichtenportale und die Wirtschaftspresse zwar dominieren. Personen mit Praxisbezug in der (Finanz-)Wirtschaft nehmen häufig die Rolle von organischen Intellektuellen ein. Dazu kommen private Blogger*innen, Wirtschaftswissenschaftler*innen und Journalist*innen. Inhalte zur Finanzkrise auf der Videoplattform Youtube werden in erster Linie von Kabarettisten bedient, in zweiter Linie von prominenten Expert*innen (Dirk Müller, Max Otte), die teilweise das Feld ihrer Kompetenz überschreiten. Es besteht Interesse an Deutungen, das durch “Selfmade-Intellektuelle” teilweise bedient wird. Verschwörungstheoretische, antisemitische und marktradikale Inhalten sind insbesondere in Filmen zu finden. Als Krisenursachen gelten Politik- und Staatsversagen, Geldsysteme und Geldpolitik, Eliteverschwörungen oder Deregulierung und Marktversagen. Deutungen setzen größtenteils an Symptomen an und greifen auf überholte Theorien zurück. Es kommt ironischerweise zu einem Bündnis von ‘alten Eliten’ und ‘dem Volk’, das einen Systemwandel in der Infragestellung politischer Entscheidungskompetenzen sucht, nicht aber in einer Kontrolle der Finanzmärkte.