Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945. München, Beck 2011 Raphael Lutz Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945. 2011 Beck München € 14,95 (original) (raw)

(zusammen mit Christina Benninghaus) Gewalt in Hungerunruhen 1847, in: Werner Freitag, Klaus Erich Pollmann und Matthias Puhle (Hg.), Politische, soziale und kulturelle Konflikte in der Geschichte von Sachsen-Anhalt, Halle 1999, S. 147-162

Als Edward Palmer Thompson 1971 das in der Forschung zu Hungemnruhen auch heute noch dominante Konzept der "moral economy" entwickelte, betrachtete er Preisfestsetzungsaktionen als charakteristische Form der Subsistenzunrnhe. 1 Bei solchen Aktionen beschlagnahmte die protestierende Menge im Ort vorhandenes Getreide und verkaufte es anschließend in Eigenregie zu einem als gerecht empfundenen Preis, wobei der Erlös des Verkaufs dem Eigentümer des Getreides übergeben wurde. Die "taxation populaire" zeichnete sich damit zum einen durch ein hohes Maß an Disziplin aus, zum anderen verwies sie auf althergebrachte Vorstellungen vom gerechten Preis. Solche vergleichsweise gewaltarmen Formen des Hungerprotestes waren im Frühjahr 1847 in Deutschland und Frankreich jedoch die Ausnahme. 2 Manfred Gailus kontrastiert in seiner wegweisenden Arbeit zu Hungerumuhen in Deutschland 1847 die dem Idealtypus des gewaltmmen Protestes am ehesten entsprechende Umuhe im brandenburgischen Schwiebus mit Vorgängen in Landsberg an der Warthe. Während bei den Ereignissen in Schwiebus Tuchmacher die in einer Gastwirtschaft lagernden Getreidev01Täte beschlagnahmten und zu einem ermäßigten Preis verkauften, kam es bei dem Tumult in Landsberg zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen einen jüdischen Getreidehändler, dessen enorm große Getreidevorräte zum guten Teil geplündert wurden. Während Gailus in den Protestierenden von Schwiebus "Rebellen wider Willen" sieht, ,,deren Handeln weitgehend von den gewohnheitsrechtlichen Normen einer 'moralischen Ökonomie' bestimmt wurde", gelten ihm die "Tumultuanten" von Landsberg als "freche Männer und freche Weiber", denen gesetzwidriges Verhalten bereits zur Gewohnheit geworden war.3 Schließlich hatte fast die Hälfte der Verurteilten Vorstrafen wegen kleinerer Eigentumsdelikte. Eine Motivation im Sinne des Konzepts der "moral economy" sieht Gailus bei diesem zweiten Fallbeispiel nicht als wahrscheinlich an. Doch lassen sich Motive und Intentionen einerseits, Protestfmmen und Gewaltbereitschaft andererseits tatsächlich in dieser Form aufeinander beziehen? Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welchen Ort gewalttätiges Handeln in den Hungerunruhen hatte, die im Frühjahr 1847 in den Regiemngsbezirken Magdeburg und Merseburg der preußischen Provinz Sachsen und in den drei anhaltischen Herzogtümern stattfanden. Im Anschluß an einen kurzen Überblick zu Ereignissen und Hintergründen der Subsistenzunruhen im Untersuchungsgebiet wird anhand des Beispiels Merseburg gezeigt, daß gewalttätige und gewaltmme Edward P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Past and Present 50 (1971), S. 76-136. Deutsche Übersetzung unter dem Titel: Die "sittliche Ökonomie" der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: Detlef Puls (Hg.), Wahrnehmungsformen und Protestverhalten.

Böhler, Jochen (2006): Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939. Frankfurt am Main: Fischer (Die Zeit des Nationalsozialismus).

POLEN UNTER DEM EISERNEN KREUZ Nicht der Angriff der Hitler-Armeen auf die Sowjetunion im Sommer 1941, sondern bereits der Überfall auf Polen im September 1939 bildete den Auftakt zum deutschen Vernichtungskrieg: So lautet die gut belegte These eines Buches, das der Historiker Jochen Böhler in der bekannten, von Walter H. Pehle über Jahrzehnte betreuten »Schwarzen Reihe« des S. Fischer Verlages veröffentlicht hat. Der Autor (Jahrgang 1969) ist Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau. Für seine aufsehenerregende Publikation – die erste umfassende Darstellung des Polenkrieges aus deutscher Feder überhaupt! – hat er alle erreichbaren polnischen und deutschen Quellen ausgewertet. Das Ergebnis lässt keinen Zweifel zu: Soldaten der Wehrmacht liefen in Hunderten polnischen Dörfern und Städten Amok, ermordeten Tausende von Zivilisten und legten zahlreiche Ortschaften in Schutt und Asche. Doch nicht nur Zivilisten, sondern auch polnische Soldaten wurden Opfer von Massakern. Viele von ihnen wurden nach der Gefangennahme kurzerhand erschossen. Ein Angehöriger des Infanterieregiments 41 im Operationsgebiet der 8. Armee notierte am 13. September: »Überall wurden polnische Zivilisten und Soldaten herausgezogen. Als die Aktion beendet ist, brennt das ganze Dorf. Am Leben blieb niemand, haben auch alle Hunde erschossen.« Am schlimmsten erging es den polnischen Juden. Sie waren faktisch Freiwild für die deutschen Soldaten, die sich einen Spaß daraus machten, ihnen die Bärte zu scheren. Juden wurden zu entwürdigenden Arbeiten zwangsrekrutiert, häufig auch als Geiseln genommen und erschossen. Auch hier kam es bereits zu einer engen Kooperation zwischen SS- und Polizeieinheiten und Wehrmachtformationen. Die Ereignisse auf dem polnischen Kriegsschauplatz werfen so einen Schatten voraus auf das, was zwischen 1941 und 1944 in den besetzten Gebieten der Sowjetunion in noch schrecklicheren Dimensionen praktiziert werden sollte. Wie konnte es zu den Orgien der Gewalt und Vernichtung im Spätsommer 1939 kommen? Böhler betont stark die ideologische Vorprägung von Offizieren und Soldaten: Sie marschierten in Polen ein mit einem bestimmten, rassistisch verzerrten Bild von »den Slawen« und »den Juden«. Ein seit langem gepflegtes kulturelles Überlegenheitsgefühl mischte sich mit tief verwurzelten, durch die NS-Propaganda verstärkten antisemitischen Ressen ti ments. Die Feldpostbriefe bieten dafür reiches Anschauungsmaterial; immer wieder ist hier von »Saujuden« und »widerlichen Judengestalten« die Rede. Allerdings macht der Autor deutlich, dass die tradierten Feindbilder und Vorurteile allein das ganze Ausmaß der Gewaltbereitschaft nicht erklären können. Dazu bedurfte es zusätzlicher Eindrücke und Erfahrungen in den ersten Tagen und Wochen des Krieges. Eine wichtige Rolle schreibt Böhler dem »Freischärlerwahn« zu. Unter den deutschen Truppen war die Vorstellung verbreitet, es mit einem heimtückischen Gegner zu tun zu haben, der vorzugsweise aus dem Hinterhalt operierte. Eine Partisanenbewegung, die von großen Teilen der polnischen Bevölkerung unterstützt wurde, existierte jedoch zu Beginn des Kriegs nicht. Sie war, wie überzeugend nachgewiesen wird, ein reines Fantasieprodukt – aber ein höchst folgenreiches. Denn dadurch wurde die Nervosität unter den deutschen Soldaten gesteigert, die sich dann vielerorts in willkürlichen Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung entlud. Die Gewaltexzesse hätten nur unterbunden werden können, wenn die Täter bestraft worden wären. Doch das blieb die Ausnahme. Die meisten Befehlshaber deckten die Verbrechen der Truppe, ja ermunterten sie teilweise noch zu schärferem Vorgehen. Die ersten »verbrecherischen Befehle« der Wehrmachtführung wurden nicht, wie man bislang angenommen hat, vor Beginn des »Unternehmens Barbarossa« im Frühjahr 1941 erlassen, sondern bereits im September 1939 formuliert und exekutiert. Böhlers Buch darf schon jetzt als ein Pionierwerk betrachtet werden. - VOLKER ULLRICH, DIE ZEIT, 29.06.2006

Ewald Frie / Ute Planert (Hrsg.), Revolution, Krieg und die Geburt von Staat und Nation. Staatsbildung in Europa und den Amerikas 1770–1930. (Bedrohte Ordnungen, Bd. 3.) Tübingen, Mohr Siebeck 2016

Historische Zeitschrift, 2017

rem Territorium zum Nationalheiligen und Patron des serbischen Volkes unter ungarischer Oberhoheit erhob. Während er zunächst im kirchlichen Rahmen nur wenig durch gezielte Predigten verehrt wurde, geschah dies im weltlichen Bereich bei Schulfeiern. Das neue, dem Osmanischen Staat weiterhin tributpflichtige Serbien erklärte 1827 den Tag des Heiligen Sava zum Landesfeiertag. Nach dem Ersten Weltkrieg erklärten einige zeitgenössische serbische Autoren die Niederlage auf dem Amselfeld sogar zum Sieg. Hatten sich im 19.Jahrhundert säkulare und religiöse Diskurse zu den Heiligen und dem Kosovomythos voneinander gelöst, vereinigten sie sich schließlich wieder. Dies führte zu einer Sakralisierung, deren Ansätze am Beginn des 20.Jahrhunderts lagen, aber dann in der Zwischenkriegszeit, vor allem nach der Etablierung der Königsdiktaturen in Serbien und Bulgarien, überhöht wurde. Rohdewald zeichnet minutiös die Entwicklung der Mythen zu den einzelnen Heiligen und zum Kosovo anhand von Autoren aus dem 19. und 20.Jahrhundert nach. Hier liegt auch ein Nachteil der Arbeit: Nicht immer ist für den Leser ersichtlich, welche Bedeutung die religiösen oder weltlichen Verfasser hatten und wie stark sie damit die Gesellschaft beeinflussen konnten. Dies mindert nicht das Verdienst des Autors, die Kontinuitäten und Diskontinuitäten innerhalb des Themas sehr deutlich geschildert zu haben. Um so bedauerlicher sind einige Fehler: So wies der Phoenixmythos sehr wohl eine christliche Bedeutung auf, und Saloniki fiel an Griechenland, weil dessen Truppen vor den bulgarischen die Stadt erreichten und nicht erst im 2. Balkankrieg. Am gravierendsten ist die Bezeichnung der Habsburgermonarchie für die Zeit vor 1867 als "Österreich-Ungarn" oder "Doppelmonarchie".