Das Ende der ästhetischen Intoleranz? : Musikgeschmack und symbolische Gewalt in der Gegenwartsgesellschaft (original) (raw)

Die ewige Moderne: Protest und Sehnsucht in der Musik der Jugendlichen

Jean-Marie Seca analysiert die psychologische Bedeutung der Rockkultur (im weiteren Sinne): "In jeder aktuellen Rockgruppe gibt es so etwas wie einen Versuch der Restauration und vor allem der Reformierung eines Geistes, der ganze Generationen in Schwingungen ergriffen hat. Jedem neuen Stil entspricht eine immer stärkere Aufwertung der Person, des Selbst, des Persönlichen, der Individualität, aber auch der Masse im Taumel vor ihren Idolen. Rock verkörpert diesen Geist der Menge, die in Bewegung ist vor der Zeit, die vergeht, eine Bewegung, die von jeder Theorie, jedem Konzept losgelöst ist. Er ist ein bisschen wie die ideale Sprache der Masse in Aktion, ein Lebenszustand, eine Ausdrucksmöglichkeit und vor allem ein Code der Minderheiten." (S.15) Dieser Kommentar, der 1988 verfasst wurde, könnte auf alle Stilrichtungen populärer Musik zutreffen, die bei den Jugendlichen beliebt sind.

Politik Macht Musik ? Identitäten, Empowerment, Wokeness, Cancel Culture …

MusikTexte, 2022

Identitäten, Empowerment, Wokeness, Cancel Culture ... v on Ra.iner N onnenm.ann Über Nacht war das eigene lch zu einem Teil eines .W'ir geworden, das a1l die anmaßende Unverrückbarkeit des Wir besaß, und damit wol1te er ebenso wenig etwas zu tun haben wie mit irgendeinem anderen tyrannischen Wir, das seines Weges kam.

Vom Kanon der Verbote und der postmedialen Musik – Überlegungen zu Tabu Tonalität

die Konstitution musikalischen Zusammenhangs durch Tonalität ist unwiederbringlich dahin. Weder glaubt die dritte Generation an die beflissenen Dreiklänge, die sie blinzelnd schreibt, noch vermöchten die fadenscheinigen Mittel von sich aus zu anderem Klang eingesetzt zu werden als dem hohlen." i So schrieb Theodor W. Adorno in seiner 1949 erschienenen Philosophie der neuen Musik und zementierte damit die Ablehnung der tonalen Musik, die vor ihm bereits Schönberg als überholt erklärt und mit seiner Methode der "12 nur aufeinander bezogenen Töne" systematisch ausgehebelt hatte. Das Tabu Tonalität hatte in der Zeit, als Adorno diese Zeilen schrieb zweifelsohne seine Hochzeit. Hat dieses Gebot heute noch Gültigkeit? Spontan wirkt es veraltet, wähnen sich doch die meisten der zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten in einer Zeit, in der alles erlaubt ist. Die Frage nach dem Tabu Tonalität erweckt dadurch beinahe schon nostalgische Gefühle und erinnert an eine Zeit, als die Welt geordnet schien, in der Richtig und Falsch unmissverständlich voneinander getrennt waren. Nun sind Tabus widerspenstige Gefährten, sie verabschieden sich nicht einfach dadurch, dass sich die Rhetorik im betreffenden musikalischen Diskurs ändert. Auch wenn längst ein "alles ist erlaubt" formuliert und proklamiert wurde, greifen allzu oft die Fesseln der vergangenen Verbote auf unbewusste und damit umso widerstandsfähigere Art. Geht man heutzutage im deutschsprachigen Raum auf ein Festival der instrumentalen Neuen Musik, fällt auf, dass der überaus dominante Teil der zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten die Tonalität bestenfalls mit größter Vorsicht angreifen. Verbalisiert man heutzutage aber noch, dass Tonalität verboten sei, erntet man damit am ehesten ein müdes Lächeln. Tatsächlich scheint das einstige Verbot in der Praxis aber noch verblüffend stark nach zu wirken. Wozu dienen Tabus? Entsprechend der Anthropologin Mary Douglas, schützen Tabus eine Gesellschaft, indem sie eine bestimmte Ordnung aufrechterhalten, also konservieren, und von der Verbreitung einer unheilbringenden Idee oder Substanz schützen. Feared contagion extends the danger of a broken taboo to the whole community. ii Ein typisches Beispiel für ein kulturübergreifendes Tabu ist das Inzestverbot, das eine Familie und damit auch die Gesellschaft vor Fehlgeburten und genetischer bedingter Resistenzschwäche schützen soll. Entsprechend sollte die neue Musik der 50er Jahre vor einer vermeintlich degenerativen Wirkung der Tonalität geschützt werden, die, so Adorno, von der Kulturindustrie vereinnahmt und zur Verblendung des Bürgertums benutzt wurde. iii Um die Frage zu beantworten, ob so ein Tabu heute noch Gültigkeit hat, ist es meiner Meinung nach notwendig, sich zu vergegenwärtigen, aus welcher Situation heraus dieses Verbot einst entstanden

Liebe und Tugend : Musik als eine moralische Institution

Musicologica Brunensia, 2022

Love and virtue are present as a message in all varieties of modern musical creation, above all in opera, oratorio and cantata, but also in church and instrumental music from the 16th to the early 19th centuries: individually and as a couple, as alternatives or as opposites, as related feelings or those to be decided between, as good or bad. Building on traditions, the stage became an institution during the Enlightenment, can make visible the feelings, thoughts and problems of society, which is comparable to religion, because the jurisdiction of the stage begins where the influence of worldly courts ends, which is why the stage can and must be educational. This was transferred from the stage to other branches of literary and musical art. That is why the librettist became a moral institution who had to portray feelings in his texts and teach morals. The moral education inherent in the text has to be supported and, above all, conveyed by the music. The exponents of these feelings could be drawn from mythology or religion, in the Enlightenment also come from everyday life. For this reason, love and virtue are also a concern of church music, even of instrumental music in terms of program music, which-although without text-is a special form of dramatic music. During the Enlightenment, the stage was seen as a "moral institution" (Friedrich von Schiller), but it was also before that. The fact that musical stage works-in a broader sense also oratorios and cantatas-form the feelings, teach morality and have to follow an educational task, has the musical creation from the 17th to the early 19th century not disregarded, still less negated. Librettists and composers alike have fulfilled this task to a greater or lesser degree, sometimes demonstratively and sometimes subtly, which is particularly evident in the example of love and virtue. It is interesting to observe that the admonition to virtue and to true, not only sensual, love is often expressed or at least hinted at in the title of these musical stage works, oratorios and cantatas. In any case, they educate, even preach, just like church music with its liturgical, biblical or freely paraphrased texts. Opera, oratorio and cantatas were thus involved in a homiletic communication process up until the 19th century, which defined the character and meaning of love and virtue

Zur Kritik der Autorität im »Erscheinungsraum« der Moderne (Figur, Begriff, Gewalt)

Autorität. Krise, Konstruktion und Konjunktur. Hrsg. von Oliver Kohns, Till van Rahden und Martin Roussel. Paderborn: Fink 2016 (Texte zur politischen Ästhe¬tik; 5), S. 41–73, 2016

»Denn wo kein Vaterland mehr ist, kann es auch keine Staatsbürger mehr geben. Diese beiden Worte: Vaterland und Staatsbürger müssen aus den modernen Sprachen gestrichen werden.« (Jean-Jacques Rousseau, Émile)

Zur Kritik der musiksoziologischen Vernunft

Historische Musikwissenschaft, 2013

Eine grundlagentheoretische Bestimmung der Musiksoziologie-so würde ich den kantianischen Titel meines Beitrages übersetzen in die methodologische Reflexion einer Erfahrungswissenschaft-ist heute gleichermaßen dringlich wie schwierig. Letzteres, da sich die Disziplin, soweit sie repräsentiert ist in der Gestalt einer eigenen Bindestrich-Branche, mehr denn je abgespalten zeigt von den Grundlagen der Mutterfächer, Soziologie und Musikwissenschaft. Das wird auf seine Weise auch recht deutlich laut aus der Mitte des kleinen Faches selbst. So schreibt Hans Neuhoff in seiner 2007 veröffentlichten Ortsbestimmung »Musiksoziologie heute«: »Dennoch kann von einem Kanon und einer Einheit des Fachgebiets, wie sie die benachbarte Musikpsychologie weitgehend auszeichnet, keine Rede sein. Die Gründe hierfür dürfen nicht einfach in dem beschriebenen raschen Wachstum gesucht werden-das eine Fragmentierung nur dann begünstigt, wenn bei den Fachvertretern kein gemeinsames Vorverständnis (Paradigma) existiert, das dem Prozeß Struktur und Richtung gibt. Genau das ist aber der Fall. Musiksoziologie heute befindet sich noch immer in einem ebenso vorparadigmatischen Zustand, wie die internationale Vernetzung und Kommunikation gering ist.« 1 Als einen Beleg dafür zieht Neuhoff den Vergleich zwischen den Musiksoziologie-Artikeln aus den beiden zentralen musikwissenschaftlichen Lexika heran: zwischen dem von John Shepherd aus dem New Grove und dem von Christian Kaden aus der zweiten Auflage der MGG. Die Darstellungen ihrer Disziplin könnten, so Neuhoffs Kommentar, »kaum verschiedener sein.« 2 Seit Hans Boettcher 1931 in der Zeitschrift Melos kurzzeitig seine Diskussionsspalte zur Profilklärung dieses neuen Faches einrichtete, 3 scheint es nicht merklich gefestigter zu sein. Im Gegenteil: Die Zeichen stehen eher auf rapide wachsender Entfernung von einer grundlagentheoretischen Verortung. Der Grund dafür liegt gerade in dem von Neuhoff erwähnten »raschen Wachstum« des Faches bzw. der Art dieses Wachstums. Dazu gehört vor allem »im Unterschied zur älteren Musiksoziologie, die uneingeschränkte Anerkennung populärer Musikarten als Gegenstand musiksoziologischer Forschung sowie die produktive Einbindung verschiedener speziellerer Denk-und Forschungsansätze in den fachlichen Horizont. Das hatte auch zur Folge, daß nicht nur Musikwissenschaftler, sondern auch Soziologen und Vertreter anderer Disziplinen musiksoziologisch relevante Arbeiten beigesteuert haben. Insbesondere im angloamerikanischen Sprachraum hat dabei die Befassung mit den großen populären Genres die Theoriediskussion in der wichtigen Frage nach der Bedeutungsgenese von Musik vorangebracht.« 4

Wie gut können wir über Geschmack streiten? Ästhetisches Urteilsvermögen und musikbezogene Argumentationskompetenz

Martina Schwarzbauer et .al.: Tagungsband zur Tagung "Ästhetische Kompetenz - nur ein Schlagwort?" an der Universität Mozarteum Salzburg. , 2017

Wie gut können wir über Geschmack streiten? Ästhetisches Urteilsvermögen und musikbezogene Argumentationskompetenz Ästhetische Kompetenz muss kein Widerspruch sein Die Rede von ‚ästhetischer Kompetenz' birgt eine gewisse Spannung, weil die beiden Bestandteile des Begriffs auf widerstreitende pädagogische Orientierungen verweisen. Zwischen Debatten, in denen die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für kulturelle Bildung hervorgehoben wird, und solchen, die sich mit Fragen des Kompetenzerwerbs und mit der Messung von Bildungsresultaten beschäftigen, scheinen Welten zu liegen. Man schaut wenn, dann eher kritisch auf das andere Lager. Begegnen sich die Diskurse, etwa wenn es darum geht, die Wirksamkeit ästhetischer Bildung zu evaluieren, oder wenn kompetenzorientiertes Unterrichten auf dem Lehrplan der künstlerischen Fächer steht, sind Konflikte zu erwarten. In Didaktik und Schulpädagogik ist ‚Kompetenz' in den vergangenen Jahren zu einem häufig gebrauchten Wort avanciert. Dahinter steht einerseits der verständliche Wunsch nach einem besseren, nämlich kompetenzorientierten Unterricht, der die Schülerinnen und Schüler nicht nur mit Inhalten konfrontiert, sondern dafür Sor-ge trägt, dass sie das Lernangebot tatsächlich sinnvoll nutzen und am Ende mehr wissen und mehr können als zuvor. Die Karriere des Kompetenzbegriffs verdankt sich gleichzeitig dem politischen Anspruch, Unterrichtsqualität in vergleichender Weise zu erfassen, um so das Bildungssystem als Ganzes besser steuern zu können. Dafür

Die Grenzen der Empörung gegen populäre Musik. Fakten und Vermutungen

Fernand Hörner (Hg.): Kulturkritik und das Populäre in der Musik. Münster 2016, S. 33-51

Zentrale These ist: Kommerzielle populäre Musik war im deutschsprachigen Raum vom 19. Jahrhundert bis heute Gegenstand von Kritik und Kampagnen, die sie als moralisch gefährlich und geschmackszerstörend attackierten. Doch der Vergleich mit den Feldzügen gegen populäre Literatur und das populäre Kino zeigt: Die Musik war sehr viel weniger von Empörung und Repression betroffen. Was waren die Ursachen für die unterschiedliche Behandlung? Der Beitrag benennt einige Spezifika populärer Musik, die dem zugrunde liegen könnten: Geringes narratives Potenzial, vermeintlich geringe Jugendgefährdung, schwer zu verbieten, Unverzichtbarkeit als sinnlich-ästhetisches Schmiermittel für moderne Alltage.