Grandioser Stuttgart-Tatort "Lass sie gehen": Dem Fall gebührt ein Trommelwirbel (original) (raw)
Die Tatorte, behaupten die Freizeitkritiker im Netz, seien früher besser gewesen: nicht so überfrachtet mit abgedrehten Regie-Ideen und doppelten Böden. Bei solchen Vergleichen ist immer viel Verklärung im Spiel, aber manche Siebzigerjahre-Episoden haben jedes Lob verdient: Die Erlebnisse von Kommissar Finke etwa, inszeniert vom späteren Regie-Star Wolfgang Petersen. In der berühmten NDR-Folge „Jagdrevier“ von 1973 reist der Kommissar aus der großen Stadt Kiel in die norddeutsche Provinz, wo er sich in einem Gasthof einquartiert, der auf Touristen eigentlich gar nicht mehr eingestellt ist. Er bekommt da trotzdem ein anständiges Frühstück und beobachtet erst mal die Leute.
In der SWR-Folge „Lass sie gehen“ an diesem Sonntag reist der Kommissar aus der großen Stadt Stuttgart in die schwäbische Provinz, wo er sich in einem Gasthof einquartiert, der auf Touristen eigentlich gar nicht mehr eingestellt ist. Er bekommt da trotzdem ein anständiges Frühstück und beobachtet erst mal die Leute. Die Geschichten gehen dann vollkommen anders weiter, aber dass das Setting sich ähnelt, spricht für diesen Stuttgarter Tatort, der sich tatsächlich nach großer Vergangenheit anfühlt. Kein inszenatorischer Schnickschnack, keine (mehr oder weniger) kunstvoll übereinandergelegten Handlungsebenen. Und statt permanent dräuender Musik wirkt beim Spannungsaufbau ein leiser Trommelwirbel.
Eine junge Frau geht in die Stadt und kommt um. Was macht das mit der Familie daheim?
Regisseur Andreas Kleinert und Autor Norbert Baumgarten erzählen eine Geschichte von Metropole und Dorf, Heimeligkeit und Aufbruch. (Großes Thema auch im Kommissar und bei Derrick früher: Junge Frau aus kleinen Verhältnissen zieht in die Stadt München und kommt dort um.) Hier ist es ein neues Leben in Stuttgart („Schduagord“ sagen die Leute vom Dorf), für das die Wirtstochter Hanna Riedle ihr Elternhaus verlässt. Sie erträgt die Stickigkeit und Strebsamkeit und falsche Gottesfürchtigkeit zu Hause nicht mehr, wo man vorm Essen schwäbisch betet. „Komm Herr Jesus, sei unser Gascht, und segne, was du uns bescheret hasch.“ Dann wird das Mädchen ermordet, und dann schaut und hört dieser Film ganz genau hin, um herauszufinden, was die Tragödie mit der Familie und den Freunden auf der Schwäbischen Alb macht, die Trauernde sind. Und Verdächtige. Hannas Mutter (Julika Jenkins) versucht, sich mit selbst gekneteten Klößen zu ersticken, Hannas Vater (Moritz Führmann) bricht zusammen und steht wieder auf, Hannas Schwester (Irene Böhm, die kleine Schwester aus Babylon Berlin) rennt im Wortsinn um ihr Leben. Und ein junger Mann (Timocin Ziegler) fleht erst darum, dass er geliebt wird und dann darum, dass man ihm glaubt, und schließlich darum, dass er weiterleben darf– alles mit einer Intensität, die man nicht mehr vergisst.
Ein starker Tatort, dem ein eigener Trommelwirbel gebührt. Jede Rolle hervorragend besetzt, die Ermittler Lannert und Bootz (Richy Müller und Felix Klare) eh auf dem Zenit ihres Schaffens – wenn auch erstaunlich aufgeräumt unterwegs im Minenfeld der Tragödie. Als sich am Ende alles noch mal dreht (ein Detail wie in alten Columbo-Folgen spielt eine Rolle), erkennt man, dass der Episodentitel doppelt und dreifach richtig gewählt ist. Halte keinen fest. Sei gnädig. Werde nicht bitter. Lass sie also gehen, die guten Menschen und die bösen Energien. Sonst geht die Welt in Flammen auf.
Das Erste, Sonntag, 20.15 Uhr.