Manuscripts (Medieval Studies) Research Papers (original) (raw)

„Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde.“ Der Adressat dieser Anweisung ist der alttestamentliche Prophet Ezechiel, der von Gott angehalten wird, eine Schriftrolle zu essen, ihren Inhalt sich einzuverleiben und die sich auf... more

„Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde.“ Der Adressat dieser Anweisung ist der alttestamentliche Prophet Ezechiel, der von Gott angehalten wird, eine Schriftrolle zu essen, ihren Inhalt sich einzuverleiben und die sich auf diese Weise angeeigneten Worte Gottes zu verkünden (vgl. Ez 2,8ff.). In jenen Texten des Mittelalters, die unter der literaturhistoriographischen Ordnungskategorie ‚mystische Literatur‘ subsumiert werden, steht das Geschriebene meistens nicht am Beginn des Offenbarungsprozesses, sondern ist sein Produkt. Bemerkenswerterweise stellt die Schriftwerdung des Offenbarten in den Texten ein Thema für sich dar. Anders gesagt: Die Texte reflektieren die Bedingungen ihrer Entstehung; sie legen Wert darauf, den Leser in die Umstände ihrer Genese einzuweihen.
Dies gilt auch für die Helftaer Offenbarungsliteratur, deren textintern präsentierte Buchentstehungsgeschichten die deutliche Signatur von Schwester N, einer namentlich nicht bekannten Konventualin, tragen, von deren schriftstellerisch-kompilierender Hand auch die vor Kurzem entdeckte Sonderedition des Legatus divinae pietatis in der Leipziger Handschrift Ms 827 zeugt. Für gewöhnlich werden die im Helftaer Schrifttum gemachten Aussagen über die Entstehungsumstände der einzelnen Werke als kulturgeschichtlich verwertbare Fakten referiert, die über tatsächliche Schreibprozesse informieren. Doch zeigt der Prolog der Sonderausgabe des Legatus, wie Autorschaft modelliert und Schreibszenarien kreiert werden können, was die Frage nach dem Referenzwert vieler faktisch anmutender Details rund um die Buchgenesen, aber auch in Bezug auf die Figurationen von Autorschaft aufwirft.
Ohne diese Implikationen des Themas aus den Augen zu verlieren, widme ich mich in meinem Vortrag den Produkten der um 1300 tätigen Literaturwerkstatt von Helfta. Einleitend werde ich Spuren literarischer Interessenbildung bei jenen Grafenhäusern nachgehen, aus deren Reihen sich die Gründer des Vorgängerkonvents von Helfta rekrutieren. Der Blick auf die Anfänge von Helfta ist insofern aufschlussreich, als die Akteure, mit deren Namen der Literaturbetrieb um 1300 verbunden ist, Nachfahren der Förderer von Helfta bzw. der Stifter des Vorgängerkonvents waren. Diese Akteure haben in verschiedenen Funktionen zur Entstehung eines Textcorpus beigetragen, das nach einhelliger Meinung der Forschung nicht nur Werke mit Offenbarungscharakter, sondern auch solche umfasst, die aus seelsorgerischem Anliegen heraus verfasst wurden. Welche Werke mit Helfta tatsächlich in Verbindung stehen und welche wohl nicht, möchte ich im Einzelnen erläutern. Dabei gilt es, sowohl den Inhalt der neu aufgefundenen Leipziger Handschrift Ms 827 zu berücksichtigen, als auch die Argumente auf den Prüfstand zu stellen, die die Forschung veranlasst haben, das Fließende Licht und die Exercitia spiritualia dem Helftaer Literaturbetrieb um 1300 zuzuschlagen.